Warum einen Glauben lieben, wenn die Menschen zählen?

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Bild aus dem Norden der mittelenglischen Stadt Birmingham: hier stehen Moschee und Kirche nebeneinander. So wie Religionen dort gelebt werden. Nebeneinander.

In seinem Artikel „Wir müssen den Islam endlich lieben lernen“, argumentiert Felix Kozubek, es sei an der Zeit, den Islam — als Teil „unserer“ Gesellschaft —  zu lieben, um Stereotype zu zerschlagen. Ich stimme Felix in seiner Ablehnung der Gehässigkeit und der unbedingten Notwendigkeit einer Vernichtung absurder Vorurteile voll und ganz zu, jedoch muss dieser Gedanke noch weitergesponnen werden.

Obwohl im genannten Artikel bewusst darauf hingewiesen wird, dass der Islam ein selbstverständlicher Teil Österreichs sein muss, möchte ich hier auf einige sehr schwierig zu überwindende Denkmuster aufmerksam machen. Im Artikel wird schon im Titel von „wir“ gesprochen. Dadurch passiert eine, möglicherweise nicht gewollte, aber automatische Gegenüberstellung von „wir“ und „die Anderen“. Diese hat fatale Folgen, denn wer sind „wir“ und was bringt „uns“ in die privilegierte Situation, dieser Gruppe anzugehören? Wir, die „christliche Mehrheitsgesellschaft“? Wir Österreicherinnen und Österreicher? Dem „wir“ steht hier zwangsläufig das „ihr“ gegenüber. Mit einem binären „wir-ihr“ Denken, wird unterschwellig ein Bild erzeugt, das Christen auf der einen und Muslime auf der anderen Seite darstellt. „Wir“ impliziert „eigen“, „ihr“ hingegen, impliziert „fremd“. Fremdes macht oft Angst (weniger oft Neugier) und Angst schürt Ablehnung und Gehässigkeit. Deshalb darf es nicht länger heißen „wir“ müssen „sie“ tolerieren, akzeptieren, lieben.

Dies geht mit der Tatsache einher, dass es nicht zwei Kulturen sind, die hier aufeinanderprallen. Es gibt keinen „Kampf der Kulturen“. Denn wer genau hinsieht, weiß, dass „die Österreichische Kultur“ als solche nicht existiert. In ihr gibt es tausende verschiedene „Kulturen“, die friedlich nebeneinander leben. Da gibt es Mitglieder eines Wiener Fußballfanclubs, die Woche für Woche ihre „Kultur“ leben, ohne jemals die Wege eines Mönches in einem Tiroler Bergkloster zu kreuzen. Ein Mönch im Bergkloster wird vielleicht niemals mit den Tenören und Bässen des Männergesangsvereins Pörtschach in Berührung kommen. Der tiefe Bass vom Männergesangsverein Pörtschach wird womöglich nie Austria’s Next Topmodel und dessen Freundinnen treffen. So leben Menschen in Österreich: Fußballfans, Sänger, Topmodels und auch eine Gruppe die pauschal „Muslime“ genannt wird, ihre Kulturen, ohne dass sie in irgendeiner Weise „kämpfen“ müssten. Bei Begegnungen dieser Menschen, müssen alle einander mit gutem Willen und Respekt entgegentreten. Und so lange sie das tun und dabei ihre Gesetze befolgen und Pflichten wahrnehmen muss niemand niemanden „lieben“. Alle können friedlich nebeneinander leben, ohne Hass, ohne Liebe. Man muss also nicht den Islam lieben, sondern Menschen unabhängig von ihrer „Kultur“ mit Freundlichkeit entgegentreten.

Ein weiterer Aspekt der in der österreichischen Debatte um Religionen, und den Islam im Besonderen, schlichtweg ignoriert wird, ist die Fremdethnisierung, die Zuschreibung gewisser Identitäten von außen. Gemeint ist hier die Pauschalisierung von Gedankenmustern, die im Zusammenhang mit Muslimen entstehen. Dass es auch Muslime gibt, die sich gerne auf andere Arten charakterisieren würden als nur durch ihre Religionszugehörigkeit, scheint oft ignoriert zu werden. Es müssen deshalb neue Räume der Identitätsstiftung von der Gesellschaft erlaubt und gelebt werden. Ein progressives, kosmopolitisches Denken, das sich über die Grenzen der nationalstaatlichen und religiösen Identifikation hinwegsetzt, ist daher von höchster Wichtigkeit. Es bedarf an Raum für individuelle Identitäten und Charaktereigenschaften und es gilt, das Individuum als Solches zu betrachten, und keine pauschalen Zuschreibungen, seien diese nun negativ oder positiv, zu verbreiten.

Um ein Beispiel zu geben, wie diese Idee in der Praxis umsetzbar sein könnte, möchte ich ein Gedankenexperiment wagen:

Jasmin ist sieben Jahre alt. Dieses Jahr ist sie in die erste Klasse Volksschule gekommen. Sie ist ein fleißiges und talentiertes Mädchen. Ihr Papa kommt aus Ankara, ihre Mama auch. Den Sommer verbringt die Familie deshalb oft am Meer bei den Großeltern. Jasmin liebt es im Sand zu spielen oder auf ihrem aufblasbaren Krokodil im Wasser zu plantschen. Noch ist jedoch Winter und bis zum Sommer dauert es noch ein paar Monate. Diese Woche findet in Jasmins Volksschule die Multikulturelle Woche — Dialoge führen, Kulturen verstehen statt. Jasmin hat sich den Plan schon angesehen. Sie weiß was eine „Woche“ ist, was „führen“ und was „verstehen“ ist. Mit „Multikulturell“, „Dialog“ und „Kulturen“ ist sie sich da nicht so sicher. Aber ist ja auch egal. Die Lehrerin hat gesagt, für Montag sollen alle Kinder das Frühstück, das bei ihnen zu Hause gegessen wird mitbringen. Die Frau Lehrerin ist sehr lieb, findet Jasmin. Sie hat Jasmin gefragt, ob sie nicht Fladenbrot, Schafskäse und Oliven mitbringen möchte. Eigentlich mag Jasmin jedoch gar keine Oliven! Aber ist ja auch egal. Und so bringt Jasmin in einer kleinen Pausenbox Schafskäse, Oliven und Fladenbrot in die Schule mit. Und das obwohl sie eigentlich gar nie frühstückt. Lieber schläft sie noch ein bisschen länger, anstatt früher aufzustehen, um noch etwas zu essen. Und wenn, dann isst sie am liebsten ein Nutellabrot. Immerhin liebt Jasmin Nutella!

Am nächsten Tag fährt Jasmins Klasse mit einem Bus in die Stadt um sich den muslimischen Gebetsraum anzusehen. Die Frau Lehrerin ist begeistert! Die Multikulturelle Woche ist jetzt schon ein voller Erfolg. Die Kinder haben bereits so viel übereinander gelernt und verstehen einander immer besser. Jasmin kommt hier nicht ganz mit. Immerhin ist sie jetzt seit über fünf Monaten in der 1b und eigentlich kennt sie alle ihre Klassenkameraden ziemlich gut. Am besten versteht sie sich mit Clara, dem lustigen Mädchen in der Reihe vor ihr. Sie versteht überhaupt nicht, wer hier wen kennenlernen soll. Aber ist ja auch egal. Jasmin findet, dass der Gebetsraum etwas schmuddelig aussieht. Die Teppiche am Boden riechen modrig und überhaupt ist das Haus ein bisschen heruntergekommen. Der Mann, der den Kindern vom Islam, so nennt man Jasmins Religion, erzählt, bietet der ganzen Klasse am Schluss Baklava, eine klebrige, türkische Süßigkeit an. Jasmin soll erklären was Baklava genau ist. Dabei ist Jasmin ganz und gar kein Fan von Baklava. Aber ist ja auch egal.

Ist es egal?

Es ist ganz und gar nicht egal, dass Jasmin Oliven mitbringen soll und erklären muss was Baklava ist. Denn dadurch schieben die anderen Kinder Jasmin in eine Schublade. Jasmin ist anders! Bei ihr zu Hause gibt es keine Nutella, ihr Papa geht zum Beten in das heruntergekommene Haus. Ihre Mama trägt ein Kopftuch! Jasmin ist jetzt Türkin, eine „Ausländerin“. Sie weiß gar nicht, dass sie nur zwanzig Minuten von ihrer Volksschule entfernt auf die Welt gekommen ist. Durch die Multikulturelle Woche, das Hervorheben der scheinbaren Andersheit, wurde Jasmin ein Stempel aufgedrückt und ihr eine Identität, die sie sich selbst gar nicht ausgesucht hat, zugeschrieben. Niemand interessiert sich für ihre Blockflöte, ihren Papierdrachen, ihre Lieblingslieder oder ihr aufblasbares Krokodil.

Die Multikulturelle Woche — Dialoge führen, Kulturen verstehen in Jasmins Volksschule ist ein verzweifelter Versuch, dem Ruf nach gelebter Vielfalt nachzukommen. Man müsse den Kampf der Kulturen verhindern, Kindern, die zwischen zwei Kulturen pendelten, helfen, die Unterschiede zwischen abendländischer und morgenländischer Kultur zu verstehen und Kinder aus fremden Kulturen die demokratischen Werte unserer Gesellschaft lehren.

Die Vermittlung von Wissen über Religionen, Werte, Bräuche, Musik und andere Dinge ist natürlich ein wichtiger Bestandteil der Bildung junger Menschen. Auch dass Kinder von anderen Kindern lernen ist sehr bedeutend für ein funktionierendes Miteinander. Dies darf jedoch nicht vor dem Hintergrund der Andersheit passieren. Denn hier nimmt die Schubladisierung, später Fremdethnisierung, ihren Ausgang. Fühlen sich Kinder „anders“, werden sie an den Rand gedrängt, und wie Felix Kozubek richtig sagt, lauern am Rand manchmal Extreme. Deshalb ist die scheinheilige Multi-Kulti Bewegung obsolet. Multi-Kulti betont die Vielzahl der Kulturen in einer Gesellschaft, betont aber damit die Unterschiede zwischen diesen. Was Österreich jedoch braucht, ist die Akzeptanz, Kulturen einfach existieren zu lassen, ohne deren scheinbare Verschiedenheit an die große Glocke zu hängen. Selbstverständlich ist es besser, einander mit Liebe als mit Hass zu begegnen, doch würde ein klitzekleines bisschen Coolness und Gelassenheit in dieser Debatte nicht schaden.

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