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Schöne Zahlen

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Wenn bei einer Rechenaufgabe in der Matheschularbeit eine schöne, große, runde Zahl als Ergebnis dastand, dann konnte man sich freuen. Zumindest in der Unterstufe war man siegesgewiss, das Rätsel richtig gelöst zu haben. In der Oberstufe allerdings wich bei einem allzu glatten Ergebnis die Freude der Skepsis: Der Mathelehrer war doch sonst nicht so gnädig? Hatte man womöglich irgendwo eine tückische Klammer oder ein Komma übersehen? Auch wären so glatte Zahlen viel zu leicht mit den Sitznachbarn zu kommunizieren. Also, irgendwas stimmte da nicht.

Dieselbe Skepsis wäre auch bei Politikeraussagen und Prognosen angebracht, wenn allzu glatte Zahlen genannt werden, über die sich höchstens ein Zehnjähriger ungestört freuen könnte. Wie etwa ehemals der Schilling-Tausender, der jedem Österreicher vor dem EU-Beitritt 1995 versprochen wurde, dann aber nie im Geldbörsel eintraf. Inzwischen sind die Zahlen, die uns geboten werden, hyperinflationär angewachsen. Mit einem lumpigen Tausender gibt man sich nicht mehr ab. Etwa bei der Prognose der Einsparung bei der Fusion der Krankenkassen, die bis 2024 eine Milliarde Gewinn hätte bringen sollen,* oder der Ankündigung von 15 Mrd. Stützungsgeldern an Corona-geschädigte Geschäftsleute.** Hoffnung beruht auf der schönen runden Zahl auch — wenngleich leider viel bescheidener –, wenn Vizekanzler Kogler 100.000 grüne Arbeitsplätze verspricht.

Noch wirkungsvoller ist die Angstmache mit leicht verständlichen großen Zahlen. Die FPÖ sieht dementsprechend genau 140.000 Migranten, die am Balkan darauf warten, nach Österreich zu kommen, und im Rest der Welt lauern überhaupt Millionen auf eine illegale Mitfahrgelegenheit nach Europa. Welcher Politiker hat diese befragt und gezählt?

Die Missbrauchskosten bei der e-Card überschätzte der Kanzler mit 200 Millionen gleich um das 17-Fache und im Frühjahr warnte er vor 100.000 Corona-Toten. Auch diese glatte Hochrechnung ließ sich, selbst wenn man die damaligen italienischen Todeszahlen heranzog, nicht wirklich mathematisch begründen. Das ist inzwischen sogar schon rechnerisch Unbegabten aufgefallen.

Und die allerbeliebtesten Mengenangaben rechts der politischen Mitte sind die Null und „alle“: Auf den Wunsch, 100 Geflüchtete (was für eine mickrige, wenn auch gerade, Zahl!) aus Moria aufzunehmen, antwortete der Kanzler, das Thema wie immer elegant verfehlend, mit: „Wir können nicht ALLE aufnehmen.“ Auch die FPÖ liebt die Wörter „null“, „kein“ und „alle“, da braucht man sich schließlich gar nicht erst mit konkreten Zahlen aufzuhalten. Dabei weiß man doch, dass die wenigsten Rechnungen derart glatt aufgehen. Und runden lässt sich die Realität auf null und „alle“ nur äußerst selten.

Kleine, exakte oder ungerade Zahlen kommen dagegen im politischen Diskurs so gut wie gar nicht vor. Die sind wahltaktisch zu vergessen. Die Teilnehmer an unerwünschten Demonstrationen oder die Zahl der Anhänger unliebsamer Gegner werden deshalb stets mit niedrigen und unsicher geschätzten Zahlen benannt. Ein Tausender wird bei sowas sowieso kaum jemals erreicht. Die große Politik aber braucht stets die große Zahl, die Hunderttausender, Millionen und, mit fortschreitender Propaganda-Inflation, die Milliarden.

Mit Erreichen des Wahlalters wären wir allerdings aus der Unterstufe heraußen und sollten ab diesem Zeitpunkt nun doch eher den ungeraden, nicht allzu großen Zahlen, am besten solchen mit Kommastellen und Fragezeichen dahinter, Glauben schenken. Oder?

  • * real werden es jetzt geschätzte 1,7 Mrd. Verlust werden (https://orf.at/stories/3154247/ )
  • ** bis August 2020 real angekommen sind gerundete 8,7 Mrd      

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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