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Hilfe! Wo ist der Ausschaltknopf?

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Ich bin ein extrem neugieriger Mensch, halte mich aber von Facebook, Twitter und Ähnlichem fern, ganz altmodisch. Man muss ja nicht gar alles wissen. Bleibe, meiner Altersklasse entsprechend, bei TV, Radio und Zeitungen. Aber sogar hier holt mich jetzt die ständige Aufregung ein: Corona Dashboard-Kurven gehen steil aufwärts! Terroranschlag in Wien! Wie viele Täter, wie viele Opfer? US-Wahl! Jeder Bundesstaat einzeln analysiert, doch immer noch keine Entscheidung! Ich hänge einen ganzen Tag gebannt vor dem Bildschirm, um nur ja nichts zu versäumen, und versäume dabei einen ganzen Tag meines Lebens.

Es gab in meiner Kindheit eine Zeit, in der einmal am Abend Nachrichten verlesen wurden und dann kam noch ein Film. Und danach: Bundeshymne und Flimmerkiste. Man starrte auch damals gebannt auf die immergleichen Bilder von der Ermordung Kennedys oder der ersten Mondlandung, aber irgendwann war Schluss. Heute dagegen: Filmsequenzen und Aussagen in Dauerschleife, Tag und Nacht. Als wissbegieriger Mensch wartest du auf die erlösende Neuigkeit, auf eine endgültige Klärung, auf die Lösung, die das Abdrehen des Apparats rechtfertigen würde. Aber die kommt nicht. Wie wenn in der hundertsten Krimi-Folge der Täter immer noch unbekannt ist, der Cliffhanger dir aber vorgaukelt, die Lösung des Rätsels stünde — gerade jetzt – direkt bevor. Dass du sie nach langem Warten, solltest du nun ausschalten, im allerletzten Moment verpassen könntest. So macht man Quote. Sogar mit faden, weil ewig gleichen, Nachrichten. Und so erzeugt man Sucht.

Ich neigte ja immer schon zum Nachrichtenjunkie. Auch zu Normalzeiten, das heißt, wenn sich gar nichts mich Betreffendes tat in der Welt. Die Nachrichten strukturierten meinen Tagesablauf. Wecken ließ ich mich vom Morgenjournal, um halbverschlafen festzustellen, ob die Welt noch stand oder ob ich schleunigst aufwachen sollte. Anschließend zum Frühstück die regionale Zeitung, um zu wissen, wer mit dem Traktor abgestürzt oder anderweitig gestorben war. Beim Kochen das Mittagsjournal. Okay, es hatte sich nichts Wesentliches getan seit in der Früh. Zum Kaffee zumindest ein Bogen der unhandlich großen deutschen Wochenzeitung, da erfährt man manchmal Neues von letzter Woche. Abends dann Abendnachrichten auf verschiedenen Sendern, um meine Sprachkenntnisse aufzufrischen und festzustellen, dass es anderswo genau gleich lief wie bei uns und man dieselben Bilder und Sprüche weltweit serviert bekam. Nach den Spätnachrichten ging ich beruhigt schlafen. Der Tag war nicht anders verlaufen als der vorherige. Die Welt stand noch.

Mit Corona verschärfte sich die Lage plötzlich, weil dieses Thema mich nun doch auch betraf. Im Stundentakt wurden neue Beschränkungen, Analysen, Ratschläge ausgegeben. Man musste alles wissen, kannte sich aber kaum mehr aus. Je öfter man Nachrichten hörte, desto weniger.  Dessen ungeachtet las ich die Zeitung – wegen der anfänglich vermuteten viralen Übertragungsgefahr übers Papier – aber nun nicht mehr zum Frühstück, sondern erst mit zwei bis drei Tagen Verspätung. Die Wochenzeitung — wegen der Postverteilerzentren und Postzustelldienste, man weiß ja, wie dort ungeschützt geschuftet wird! – überhaupt frühestens eine Woche nach Erscheinen. Und siehe da: Das Bild klärte sich. Die stündlichen, täglichen Aufregungen schwanden, das Wichtige war auch nach Tagen noch wichtig. Das Unwichtige blieb unwichtig. Und ich sparte mir sehr viel Lebenszeit, die ich davor in unnötiger Irritation verbracht hatte.  Erst in der vergangenen Woche erlitt ich wieder einen Rückfall, siehe oben.

Aber meist lasse ich die Zeitungen jetzt länger liegen. Den politischen Teil kann man dann ruhig überblättern, höchstens die Wissenschafts- und Feuilletonbeiträge sind mit Verspätung immer noch lesenswert. Wie ein gutes Stück Fleisch wird die Nachrichtenflut durch das Abhängen erst bekömmlich. Zu viel Fleisch sollte man sowieso nicht verzehren, heißt es, und Nachrichten sind ja nichts anderes als proteinlastige geistige Nahrung: Stärkend, aber zu viel davon erzeugt Gedächtnisschwund und Denkunfähigkeit und verkürzt insgesamt das Leben. 

Die Methode des Abliegen-Lassens kann ich, trotz eigener Rückfälle in die Sucht, speziell jenen empfehlen, die ihre Nachrichten aus dem Internet beziehen. Da sind die leeren Aufregungen ja noch enger getaktet und noch unnützer, denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass minütlich entscheidend Weltbewegendes geschieht. Der Philosoph Karl Popper soll einmal gesagt haben, dass er überhaupt keine Zeitung lese, weil sich das wirklich Wichtige sowieso zu ihm durchspreche. Ein weiser Mann.

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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