Emsiana #4 – Was Tirol von Vorarlberg lernen kann

8 Minuten Lesedauer

Zunächst: Kann man denn überhaupt von einer echten Vision sprechen, wenn eine Kleinstadt ein Wochenende im Jahr internationale Künstler und den halben Bezirk als Publikum zu Besuch hat?
Da darf man sich aber nichts vormachen! Hohenems ist nämlich nicht nur eine Woche im Jahr visionär – da wird seit Jahren intensiv an der Aufwertung des Stadtkerns gearbeitet, inzwischen mit einem ausgereiften Stadtplan und einer eigenen Zeitschrift für Stadtentwicklung. Und das ist schon recht beeindruckend!

Ein ganz schöner Hitzkopf und Teil der Visionäre in Hohenems. (c) Susannah Haas
Emser Hitzkopf (c) Susannah Haas

In einer Zeit, in der eine gelingende Integrationspolitik vielleicht zuallererst auf eine vernünftige Stadtpolitik bauen muss – weil man sich mit dem konkreten Ort, an dem man lebt nun mal leichter identifizieren kann als mit einem abstrakten Nationalstaat – hat Hohenems eigentlich Vorbildfunktion. Das auch dann, wenn wir annehmen müssen, dass es als Stadt ähnlich gespalten ist wie Österreich als Ganzes.
Natürlich hat Hohenems reichlich Erfahrung mit Pluralismus, und das aus Zeiten, zu denen dieser Begriff noch lange nicht gebräuchlich war. Aber die Entwicklung vom Handels- und Kulturzentrum zur Festivalstadt war selbstverständlich alles andere als linear, und die Wiederbelebung alter Bausubstanzen ebenso wie alter Traditionen war eine bewusste Entscheidung, deren Umsetzung unglaublich viel Zeit und Mühe gekostet hat.


Der neue öffentliche Raum


Getragen wird die Stadtentwicklung vor allem von Privatpersonen – aber funktionieren kann sie nur, weil es eine ganze Reihe öffentlicher Plätze gibt, an denen das Projekt umgesetzt werden kann. An dieser Stelle muss vor allem das Visionscafé erwähnt sein, das mitten in der Stadt ein kleines Modell der Kooperation und des Gemeinwohls ist – eine gleichermaßen coole wie gemütliche Location, die, ästhetisch völlig reduziert, als Hintergrund für alle möglichen kulturellen Geschehnisse dient:

Der Visionsgarten bei Nacht. (c) Visionscafé Hohenems
Der Visionsgarten bei Nacht. (c) Visionscafé Hohenems

Da spielte zunächst Emaline Delapaix mit ihrem Gitarristen ein wunderschönes, bittersüßes Folk-Konzert. Da präsentierten drei junge Herren aus Damaskus und Raqqa lyrische und Prosatexte über ihr persönliches Verhältnis zu dem Land, das sie in jüngster Zeit verlassen haben; das in gesprochener und gesungener Form und künstlerisch hochwertig – nicht einfach ein nettes Integrationsprojekt. Da gab zuletzt AFEU-Chefredakteur Felix Kozubek eine Lesung einiger seiner besten Texte (der werte Leser wird viele davon kennen) vor vollem Haus. Wie oft er das schon in Tirol gemacht hat? Noch nie!
Das Kulturprogramm des Visionscafés ist, wie das Konzept dahinter, anspruchsvoll und originell, vor allem aber demokratisch, weil völlig offen und für alle zugänglich.
Die elitärere Hälfte der Emsiana spielte sich dann in direkter Nachbarschaft, im Jüdischen Viertel der Stadt ab. Das Jüdische Museum, über das schon ausführlich berichtet wurde, hebt die Frage nach der Möglichkeit und Verunmöglichung des friedlichen Zusammenlebens in einer Stadt auf eine reflektierte und wissenschaftliche Ebene, aber nicht ohne Alltagsnähe. Und die teils wunderschön renovierten historischen Bauten, etwa Vorarlbergs erstes Kaffeehaus „Kitzinger“, die ehemalige jüdische Schule (heute Restaurant „Moritz“) und die wunderbar erhaltene Mikwe aus dem 19. Jahrhundert sind auch einfach Orte, die schön anzusehen sind und an denen man sich wohlfühlen kann.
Der noch ziemlich neu renovierte Salomon-Sulzer-Saal ist auf einer anderen Ebene ebenso sehr Begegnungszentrum wie es das Visionscafé ist. Das zeigt sich daran, wie gut das Gebäude mit dem Kalligrafie-Graffiti zusammenpasst, das Muhammet Ali Baş und Calimaat, zwei ganz junge österreichische Künstler, auf dem Vorplatz hinterlassen haben, mit dem treffenden Titel „Çok güzel ya!“ („Sehr schön!“).
(c) Susannah Haas
(c) Susannah Haas

Überhaupt gibt es auch auf der Emsiana traditionell eine gewisse Neigung zur Kunst im öffentlichen Raum – dieses Jahr hat Günter Bucher den leerstehenden ehemaligen Plattenladen (eröffnet 1908) zur Leinwand umfunktioniert, was in der doch eher biederen Marktstraße (ehemalige „Christenstraße“) ziemlich effektreich kommt. Eines kann sich nämlich auch Innsbruck von der Emsiana abschauen: Der Bruch zwischen etabliertem (sprich: gefördertem) und alternativem Kulturprogramm ist faktisch aufgehoben – oder besser: Die meisten Veranstaltungen richten sich nicht an ein bestimmtes (bildungsbürgerliches oder linksprogressives oder sonst wie geartetes) Publikum.


Die Stärken der Kleinstadt


Hohenems ist nicht die einzige Stadt in Vorarlberg, die sich um ein außergewöhnliches Kulturangebot bemüht. Auch das Kunsthaus Bregenz ist in Westösterreich ohnegleichen geblieben – wann bekommt man in Tirol schon moderne Kunst in so großem Stil geboten?
Aber das Interessante an Hohenems ist, dass sein Kleinstadtcharakter (das, was wir, besonders wenn wir aus der großen Stadt kommen, gerne als eng und kleinkariert empfinden) viele Visionen erst ermöglicht. Der öffentliche Raum ist nicht völlig anonym, sondern erlaubt es Künstlern wie Zuschauern als Personen aufzuscheinen – und das, für das ländliche Österreich wirklich erstaunlich, in aller Offenheit. Insofern sind die Verhältnisse in Hohenems ideal.

(c) Susannah Haas
(c) Susannah Haas

Es soll trotzdem nicht verschwiegen werden, dass die Stadtentwicklung insgesamt am Anfang steht; wie so viele andere Orte hat Hohenems mit leeren Geschäftslokalen zu kämpfen; mit einem zwar sehr hübschen, aber nur mäßig belebten Stadtkern; mit großen Mentalitätsunterschieden in der Bevölkerung; mit einem reichlich lahmen Wirtschaftsleben.
Aber wenn man einmal ein ganzes Kulturfestival lang zu Besuch ist, kann man sehr schön beobachten, was alles möglich ist, wenn sich nur ein paar Verrückte finden, die aus einem 15 000-Einwohner-Städtchen (wieder) die kleinste Metropole Mitteleuropas machen wollen. Und wider Erwarten gelingt es auch – denn Hohenems ist mit Sicherheit das interessanteste und lebendigste Kaff weit und breit.
Wieso in Tirols Städten, vor allem im Oberland, niemand auch nur auf die Idee kommt etwas Vergleichbares zu versuchen? Zugegeben, die wenigsten davon können mit einer alten Synagoge, mit einem Palast (!), mit einem historischen Kaffee- (und nicht Gast-)haus oder mit einem Hanno Loewy aufwarten. Dafür aber mit manchem anderen. Und ohne Zweifel gibt es auch in Tirol genügend Visionäre, die mit dem Status quo unzufrieden sind und eine Fülle an Ideen hätten. Sie müssten nur endlich die Chuzpe aufbringen, sich vernetzen und an die Umsetzung gehen…

1 Comment

  1. Vielen lieben Dank für den tollen Bericht über unser Kulturfestival! Schön dass ihr hier gewesen seid! 🙂
    etwas schade finde ich, das der Visionsgarten in eurem Bericht nicht vorgekommen ist, zudem Ihr ein Bild ohne Erklärung rein gestellt habt..

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