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Mein lieber Sokrates

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Sokrates gilt nicht nur wegen seiner Philosophie des „Fragens und Hinterfragens“ als ein Held der sagenumwobenen Republik des Geistes; vielmehr wandte er diese Philosophie konse­quent auf die Gesellschaft an, in der er lebte, auf die Politik seiner Heimatstadt Athen, er war also, kurz gesagt, der intellektuelle Kritiker par excellence, und das brachte ihn – typisch, würden Intellektuelle meinen – nicht nur vor Ge­richt, es brachte ihm sogar den Tod: ein Märtyrer.

Wir wissen recht ge­nau, wie sich Sokrates gegenüber seinen Mitbürgern rechtfertigte: Ein Orakelspruch in Delphi, welcher ihn als den Weisesten in Athen bezeichnete, habe ihn auf seine Bahn gebracht; denn da er sich selbst gar nicht als weise betrachte, dem Gott Apollo aber auch nicht widersprechen wollte, habe er herausfinden müs­sen, was der Orakelspruch zu bedeuten habe. Wann immer er in diesen Bemühungen nachließ, habe ihn sein „Daimon“ weitergetrieben.

Ein Gott, ein Dämon: Diese Erklärung war in unse­rer Zeit demnach alles andere als neu. Nun hatte Sokrates, Sporn und Ansporn Athens, freilich selbst einen Stachel in seinem Fleisch, nämlich seine Ehefrau Xan­thippe; die Konstellation erscheint so archetypisch, dass man sich fra­gen muß, ob das wirklich ein Zufall war, wie ihn das Leben so spielt, oder ob es sich nicht um eine Legende handelt. Aber wie dem auch sei – Xanthippe, so dürfen wir argwöhnen, hat in ihrer berüchtigten Art wenig Verständnis für solch hehre Auftraggeber: Bevor du über Götter und Dämonen redest, mein lieber Sokrates, solltest du einmal ordentlich arbeiten, damit deine Familie etwas zwischen die Zähne bekommt; die Schuhe der Kinder sind abgelaufen, ich brauch’ ein neues Kleid – ich bin schon das Gespött der Leute, von deinem blödsinnigen Benehmen einmal ganz abgesehen –, und das Haus müsste auch neu gestrichen werden. Sagt dir dein Dämon dazu nichts? Findest du das in Ordnung, wie du deine Familie vernachläs­sigst?

Was könnte Sokrates, sofern er sich überhaupt auf einen Disput einlässt, darauf antworten? Der göttliche Auftrag? Doch verlangen die Göt­ter nicht auch, dass die Menschen einander helfen, füreinander eintreten und sorgen? Oder: das Wohl, das Schicksal Athens? Aber solch große Wörter entlocken Xanthippe lediglich ein paar deftige Kraftausdrücke, denn in ihren Augen ist dieses Athen nur etwas, dem sauer verdiente Steuern zu zahlen sind, womit sich dann aufgeblasene Männer wichtig ma­chen, womöglich gar einen Krieg anzetteln, in dem sie fürchten muss, ihre Söhne zu verlieren. Da schwingt sie sich sogar zu einer philo­sophischen Sentenz auf: Mag sein, dass sich die Welt in großen Ereig­nissen, in Kriegen und Revolutionen weiterdreht; aber wenn sie über­haupt noch steht, mein bester Sokrates, dann ist das nur das Ver­dienst von Millionen und Aber­millionen namenloser, einfacher, anstän­diger Menschen, die das getan ha­ben, was stets zu tun ist: arbeiten, Häuser bauen, Kinder großziehen!

Der Streit ließe sich übrigens im Jenseits fortsetzen, denn dort würde So­krates vielleicht auf die Be­deutung dessen verweisen, was er zu Lebzeiten gesagt hat: wie nach Tausenden von Jahren noch immer über ihn nachge­dacht, gesprochen und geschrieben wird – ganze Bibliotheken!

Aber das, erwidert Xan­thippe, das sind doch nur dieselben Narren wie du. Außerdem bezahlen sie dafür nicht mit dem Leben, lassen nicht Frau und Kinder im Stich!

aus Der kritische Imperativ (Wien: Turia + Kant, 1997).

H. W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950. Lebte und arbeitete in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. War Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für die Gegenwart. Mehrere Bücher. Mehr Infos auf der persönlichen Website.

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