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Die 68er

11 Minuten Lesedauer

Da wurde mir ein Buch angepriesen, nämlich Unser Kampf von Götz Aly, und ich hab’s pflichtschuldigst gelesen. Es verspricht einen „irritierten Blick zurück“ auf das notorische Jahr 1968. Nun sollte dieser Lektüre eigentlich eine Besprechung folgen. Aber leider weiß ich einfach nicht, was ich sagen soll.

Das soll nicht heißen, Alys Buch sei schlecht. Es ist ausführlich und detailliert, sicherlich auch wissenschaftlich fundiert (nehme ich zumindest an). Wenn’s sonst keinen Nutzen hat, so den: Es ruft in Erinnerung, welch haarsträubenden Unsinn die studentischen Protagonisten damals von sich geben konnten. Um nicht zu sagen: verbrecherisch. „Terror muss dabei sein…“

Als ich so nachdachte über dieses Buch, über die 68er und über meine eigenen Erinnerungen, da fiel mir ein anderer Autor ein, nämlich Guy Kirsch, dessen Essay Der Sturz des Ikarus (erschienen 1980) ich vor langer, langer Zeit irgendwo aufgeklaubt hatte. Es schien mir damals und scheint mir heute noch als zielsichere, einsichtige Analyse der äußeren Umstände und inneren Gefühlslagen, die zu jenem Phänomen führten, welches wir mittels des Kürzels „die 68er“ benennen. Und deshalb soll hier von diesem älteren Buch die Rede sein. Götz Aly wollen wir den heutigen Rezensenten überlassen.

Guy Kirsch stammt aus Luxemburg. Er wurde 1938 geboren, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und war später Professor für Neue Politische Ökonomie an der Universität Freiburg in der Schweiz. Er verfasste etliche bedeutende Werke, zu denen das vorliegende Essay offenbar nicht gehört, zumindest scheint es in einschlägigen Aufzählungen nicht auf. Wenn’s um das Jahr 1968 geht, dann kamen und kommen üblicherweise ausgediente Revoluzzer zu Wort, mit ihrer Mischung aus Selbstbeweihräucherung und Selbstmitleid. Guy Kirsch schlug da einen Ton an, der sich wohltuend abhob.

Ich greife nur ein paar Aspekte heraus, die mich beeindruckt haben und die mir deshalb in Erinnerung geblieben sind. Schon damals konstatierte Kirsch eine gewisse Parallele zu jener Jugendbewegung, welche in den dreißiger Jahren einfloss in die nationalsozialistische Bewegung und diese dann mittrug. Diese Parallele hat mich damals im beschränkten Ambiente von Innsbruck ebenfalls verfolgt, hat mir Albträume verursacht; denn basierend auf den Erzählungen meiner Mutter konnte ich nicht umhin, hinter den großmäuligen, pseudo-kämpferischen Parolen skandierender Studenten die diktatorische, ja mehr noch: die totalitäre Gefahr zu wittern. Damals kam mir das übertrieben vor, weit hergeholt; dank Guy Kirsch lernte ich, dass mich mein Gefühl nicht gar so getäuscht hatte.

Kirsch erkannte auch, wie sehr es sich bei der Revolte um ein Aufbegehren ohne Anlass handelte. Ohne adäquaten Anlass, um genau zu sein. Zwar gab’s einen solchen, aber der war weit weg, auf der anderen Seite der Welt: der Vietnam-Krieg. Indem die revoltierenden Stundenten jedoch „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ skandierend durch die Straßen liefen, desavouierten sie auch dieses Anliegen. Ich kann nicht gegen den Krieg sein, indem ich einfach die Seiten wechsle. Was viele von uns damals vermuteten, das sollte sich später bestätigen: Das Regime in Nordvietnam war auch bloß ein kommunistisches Regime. Wie die ausschauten, das hätte man 1968 bereits ausreichend wissen können. Der von den Studenten so hochverehrte General Giap schickte, wenn sich die Gelegenheit bot, reguläre Regimenter in Frontalangriffen gegen die amerikanische Feuerkraft, so etwa während der Belagerung von Khe Sanh 1968. Die Verluste bewegten sich in der Größenordnung von Zehntausenden. Und als die nordvietnamesische Armee nach der missglückten Tet-Offensive die Stadt Hue räumte, da hinterließ sie Massengräber voller Leichen – erschossen. Davon war allerdings nie die Rede.

Letztlich entzündete sich die Empörung also an keinem sichtbaren Anlass, ganz gewiss an keinem, welcher die Heftigkeit der Erregung gerechtfertigt hätte. Zumindest hab’ ich das so miterlebt, an der Uni in den frühen siebziger Jahren.

Deshalb malte ich später einmal das Bild einer Gruppe von Studenten, wie sie in der Mensa einer Universität sitzen und heftig über Marx, Lenin, Stalin und Mao, über Kapitalismus und Kommunismus diskutieren, vor allem aber: über die Revolution – jene Revolution, welche die böse Unterdrückung durch das imperiali­stische Monopolkapital beenden und in eine Zukunft voll Frie­den, Freiheit und Wohlstand für alle führen soll. Es geht ihnen längst nicht mehr darum, ob diese Revolution in der gegebenen Lage überhaupt notwendig oder wünschenswert sei – das erscheint selbstverständlich […].

Irritiert von ihren martialischen Reden, so schrieb ich weiter, von ihrem marxistischen Jargon mag der Zuhörer den Kopf heben und hinausschauen auf die Straße vor der Universität:

Wo bleibt da die böse Unterdrückung? Wo bleibt die Verelendung des Proletariats? Da draußen gehen die Men­schen ihrer Arbeit nach, ihren Besorgungen – und ihrem Vergnügen. Die Autos stauen sich an der Kreuzung, die Passanten sind modisch gekleidet, ihre Gesichtsfarbe zeugt von ausreichender, gesunder Er­nährung, nichts weist auf Mangel hin, oder auf Not und Elend.

Wer damals halbverdaute marxistische Parolen durchs Me­gaphon brüllte, so folgerte ich, der ver­gaß vor lauter Welt­anschauung, die Welt anzuschauen!

Guy Kirsch erinnert uns an die Leichtigkeit, mit welcher die Erörterung konkreter Missstände, konkreter Themen hinter einem Schwall vollmundiger Abstraktionen verschwinden konnte. Und auch das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Wenn’s um irgendwelche Details der germanistischen Studienordnung ging, dann mussten zumindest Adorno und Lukács herhalten, darunter gab man’s nicht. Und die Lösung bestand unweigerlich im Klassenkampf, der sich damals freilich nicht und nicht einstellen wollte.

Die so genannte „Achtundsechziger-Generation“ sei die erste gewesen, welche die „materiellen Folgen des Krieges und des Zusammenbruchs nicht mehr aus eigener Erfahrung kannte“, meint Guy Kirsch. Es sei leicht, „sich auf das Wesentliche zu besinnen, wenn man des Notwendigen sicher ist.“ Das traf zweifellos zu. Später goss ich die Erkenntnis in eine prägnante Formulierung: Das Ende der Not bringt das Ende der Notwendigkeit. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob die Formulierung nicht auch von Guy Kirsch stammt; gefunden hab’ ich sie allerdings nicht mehr. Wie stark dieses Motiv damals war, das kann ich aus eigener Erinnerung bestätigen, auch wenn ich niemals ein „Achtundsechziger“ war, auch kein Mitglied irgendeiner K-Gruppe in den siebziger Jahren (ich war überhaupt kein Mitglied). Doch galt diese Beobachtung nicht bloß den demonstrierenden und randalierenden Studenten in Berlin oder in Paris. Sie galt ebenso den Hippies in San Francisco, in weiterem Sinne sogar für meine eigene Liebe zur damaligen Musik, zum Tanz in der Diskothek – in letzter Konsequenz somit auch für mich.

Aber was blieb vom heftigen Protest der späten sechziger Jahre? Von den Barrikaden in Paris, von den Straßenschlachten in Berlin?

Herzlich wenig, wird man wohl zugeben müssen. Alternativ- und Grün-Bewegung, hören wir häufig als Antwort, doch ihrem Wesen nach waren die mit dem Leninismus der demonstrierenden Studenten nicht vereinbar – für Lenin wären das kleinbürgerliche Sentimentalitäten gewesen. Dasselbe hätte für den Feminismus gegolten. Meiner Erinnerung zufolge fand sehr wohl eine Art Kulturrevolution statt. Vieles, was meine ältere Schwester noch belastet hatte, war nun kein Problem mehr. Nicht bloß nahm mich die Freundin, eine Studienkollegin, nächtens in ihrem Untermietzimmer auf, ich fand das gegenüber meinen Eltern keiner Erwähnung mehr wert. Es war zur Selbstverständlichkeit geworden, und das innerhalb von vier oder fünf Jahren! Wobei wir solchen Beziehungen keineswegs dogmatisch nachgingen: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Ganz im Gegenteil. Das Leben ging einfach weiter, es ging seine eigenen Wege, nicht zuletzt für uns Studenten und mit uns Studenten – langhaarig, locker und bunt.

Götz Aly, Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009).

Guy Kirsch, Der Sturz des Ikarus: Was blieb vom Protest der sechziger Jahre? Reihe Analyse und Perspektiven (München, Wien: Günter Olzog Verlag, 1980).

Die beiden längeren Zitate stammen aus Heinrich Payr, Der kritische Imperativ: Zur Psychologie von Intellektuellen (Wien: Turia + Kant, 1997), S. 8–9.

H. W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950. Lebte und arbeitete in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. War Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für die Gegenwart. Mehrere Bücher. Mehr Infos auf der persönlichen Website.

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