Wer die Augen verschließt, verliert schnell seine Menschlichkeit

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Ich stehe vor einer großen, weißen Wand und blicke gespannt auf eine Fotografie, die groß darauf gedruckt ist. Meine Augen wandern über das abgebildete Ereignis. Ich lese die Bildunterschrift – ein Titel und eine etwas längere Beschreibung – ein kalter Schauer läuft mir dabei über den Rücken. Ich spüre wie sich mein Magen zusammenzieht, ein beklemmendes Gefühl breitet sich aus. Ich betrachte das Foto weiter und nehme dabei immer mehr Details wahr.
Zu sehen sind zwei junge Männer, wie sie bei sich zu Hause einen sehr intimen Moment miteinander teilen. Sie kommen sich nahe – nackt – das Zimmer, in dem sie sich befinden, ist abgedunkelt, der Fokus liegt auf den Beiden. Es ist ein sehr ästhetisches Bild, man spürt förmlich die Vertrautheit und Liebe des Paares. An sich ist es also ein schönes Foto, doch der Hintergrund, warum dieses so entstanden ist, warum es hier an der Wand hängt und warum diesen privaten Moment außer mir noch tausende andere Menschen zu sehen bekommen, berührt mich. Es macht mich auch traurig und lässt mich nachdenklich werden.

Mads Nissen (Dänemark), Scanpix/Panos Pictures, Jon und Alex, ein Homo-Paar in St. Petersburg
Mads Nissen (Dänemark), Scanpix/Panos Pictures, Jon und Alex, ein Homo-Paar in St. Petersburg

Ich befinde mich auf der „World Press Photo“ Ausstellung in Innsbruck. Diese zeigt die weltbesten Pressefotografien des vergangenen Jahres. Im Rahmen eines Wettbewerbes werden die Gewinner in acht Kategorien von einer unabhängigen Jury gekürt. Im Vordergrund steht hierbei die genaue, faire und visuell überzeugende Darstellung der Ereignisse unserer Welt. Das Foto von Jon und Alex, einem homosexuellen Paar aus Sankt Petersburg, ist der Sieger des diesjährigen Bewerbs. Mads Nissen, der dänische Fotograf der dieses bewegende Bild geschossen hat, will damit die Umstände aufzeigen, unter denen zahlreiche Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender in Russland zu leiden haben. Dort werden sexuelle Minderheiten sowohl sozial als auch politisch diskriminiert und schikaniert. Besonders aus konservativen, nationalistischen Kreisen gibt es nicht selten auch gewalttätige Übergriffe und Misshandlungen. Wer gleichgeschlechtlich liebt oder sich in seinem eigenen Körper nicht wohl fühlt, hat es schwer.
Für mich ist so ein intolerantes, engstirniges, gewalttätiges und konservatives Weltbild nicht nachvollziehbar und sicherlich auch nicht für viele andere. Ich finde es daher umso ergreifender, welchen Moment und welche Stimmung Nissen gewählt hat. Das Foto, das so viel Hass dokumentiert, ist ruhig, friedvoll und in sich stimmig. Man sieht zwei, sich liebende Menschen – und das ist alles was zählt.
Sergei Illnitsky (Russland), European Pressphoto Agency, Küchentisch in Donezk/Ukraine am 26. August nach einem Artilleriefeuer von Regierungstruppen.
Sergei Illnitsky (Russland), European Pressphoto Agency, Küchentisch in Donezk/Ukraine am 26. August nach einem Artilleriefeuer von Regierungstruppen.

Wie jedes Jahr, schafft es die World Press Photo Ausstellung mich in eine Achterbahn der Gefühle zu schicken. Manche Fotografien schockieren, andere berühren. Manche stimmen traurig, sind beklemmend oder machen einem Angst. Andere stimmen fröhlich, sind faszinierend und bereiten einem Freude. Manche dienen der Dokumentation von einschlägigen Ereignissen, andere könnte man jedoch auch als Kunstprojekt definieren. Krieg, Gewalt, Politik, Gesellschaft, Natur, Sport, Tierwelt, soziale Schicksale, Familien, Freunde – die Themen sind vielfältig. Doch alle Fotoprojekte der Ausstellung haben Eines gemeinsam: Sie liefern Einblicke und erklären bildlich Hintergründe des Weltgeschehens, die einem sonst oft verwehrt wären. Ich bewundere die Fotografen, die sich mit vollster Hingabe diesen Projekten widmen und uns so, oft auch unter Einsatz ihres Lebens, diese Eindrücke ermöglichen.
Ich verlasse die Ausstellung, wie jedes Jahr, mit gemischten Gefühlen. Wir neigen manchmal dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Täglich werden wir mit Nachrichten und Bildern aus aller Welt überhäuft. Meistens sind es keine schönen Neuigkeiten, Mord und Totschlag stehen an der Tagesordnung. Wir verlieren dabei immer mehr unser Mitgefühl und die Schmerzgrenze steigt. Die deutsche Band „Fettes Brot“ hat das in ihrem Lied „An Tagen wie diesen“ sehr gut zusammengefasst:

Eine Million bedroht vom Hungertod nach Schätzungen der UNICEF

Während ich grad gesundes Obst zerhäcksel‘ in der Moulinex

Seh‘ ein Kind in dessen traurigen Augen ’ne Fliege sitzt

Weiß, dass das echt grausam ist, doch Scheiße Mann, ich fühle nix!

Was ist denn bloß los mit mir, verdammt wie ist das möglich?

Vielleicht hab ich’s schon zu oft gesehen, man sieht’s ja beinah‘ täglich

Doch warum kann mich mittlerweile nicht mal das mehr erschrecken

Wenn irgendwo Menschen an dreckigem Wasser verrecken?

Fettes Brot, „An Tagen wie diesen“

Anschläge, wie jener gestern in Paris, zeigen, dass wir unsere Augen nicht verschließen dürfen. Unsere Schmerzgrenze darf nicht weiter steigen. Die Menschlichkeit nicht verloren gehen. Wer sich selbst ein Bild machen will und die Ausstellung noch besuchen möchte, hat noch bis zum 22. November 2015 Zeit. Von 10:00 bis 19:00 Uhr kann man sich die besten Pressefotografien der Welt im Congress Innsbruck ansehen. Achtung, keine leichte Kost.

Darcy Padilla (USA), Agence Vu, Familienliebe 1993 - 2014. Die komplexe Geschichte von Julie Baird und ihrer Familie
Darcy Padilla (USA), Agence Vu, Familienliebe 1993 – 2014. Die komplexe Geschichte von Julie Baird und ihrer Familie

Kacper Kowalski (Polen), Panos Pictures, Nebenwirkungen - ein Dokumentarprojekt über die Beziehungen zwischen Mensch und Natur.
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Einen Überblick aller Fotos findet man in der Online Galerie von World Press Photo.

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