"Beim Improvisieren sollte man nicht dem ersten, möglicherweise aber dem dritten Impuls nachgehen"

13 Minuten Lesedauer

Der Musiker Martin Nitsch ist in Tirol und Österreich wahrlich kein Unbekannter. Einzigartig ist er vor allem wegen seinem Gitarren-Spiel, das Genre-Grenzen gekonnt und ungezwungen transzendiert. Ja, irgendwie ist er ein Rockmusiker. Doch dazu nimmt seine Lust zur Improvisation einen zu großen Stellenwert ein. „Jazz-Snobs“ mögen ihm hingegen ankreiden, dass seine Musik manchmal zu rockig, zu direkt, zu „einfach“ ist.
Im Interview stellte sich heraus, dass sich Martin Nitsch ganz bewusst zwischen den „Stil-Stühlen“ bewegt und sich selbst als „Highbrow/Lowbrow-Typ“ beschreibt.  Es kommt selten vor, dass man mit einem Musiker sowohl über Punk als auch über freie Improvisation reden kann. Mit Martin Nitsch kann man das. Das allein zeigt schon seine singuläre Stellung in der österreichischen Musiklandschaft an.
Lieber Martin, könntest du mir bitte deine musikalische Sozialisation und Entwicklung skizzieren?
Hier muss man damit anfangen, dass ich sehr früh musikalisch sozialisiert wurde. Ich habe zwei ältere Geschwister. Diese haben Rockmusik gehört. Was man normalerweise mit 12-13 Jahren hört, habe ich schon mit 7 gehört. Das war zugleich auch meine Zeit in Schweden, das damals sehr liberal war. Es war das nicht-katholische Schweden –  extrem offen und liberal. Es war zum Beispiel üblich, dass Erwachsene die Kinder zuerst gegrüßt haben. In dieser Atmosphäre bin ich aufgewachsen.
1978 bin ich dann nach Österreich gekommen. Für mich war das ein Kulturschock. Österreich war katholisch und reaktionär. Das war ganz furchtbar. In Schweden war es hingegen kein Problem, mit 7 Jahren zu Weihnachten eine Sex Pistols Platte zu bekommen. Diese Zeit hat mich extrem geprägt. Das Ende der 70er Jahre mit Punk und Hardcore war für mich überaus wichtig.
Irgendwo ist dann eine Gitarre von meiner Tante herumgestanden. Mit 10 habe ich mir mit dem Geld von meinem Sparbuch eine E-Gitarre gekauft. Ich habe einfach ein paar Riffs gespielt und Songs geschrieben. Das lag für mich einfach so in der Luft.

Martin Nitsch: Musikalischer Tausendsassa zwischen allen Stühlen! (Bild: Martin Vandory)
Martin Nitsch: Musikalischer Tausendsassa zwischen allen Stühlen! (Bild: Martin Vandory)

Ich hatte keine besonders musikalische Umgebung etwa in Bezug auf meine Eltern. Die Musik wurde auch nicht forciert. Ich war damals Autodidakt. Das erste Mal, dass für mich Musik formal geworden ist war, als ich mit 15 ans BORG gekommen bin. Dort musste ich natürlich erst einmal rebellieren – und habe nie etwas geübt. Ich habe sogar mal eine 5 bekommen (lacht). Schließlich habe ich doch maturiert und war, glaube ich, österreichweit auch der erste, der das mit E-Gitarre getan hat.
Wichtig war außerdem, dass ich mit 13-14 meine Bands hatte. Ursprünglich haben wir in diesen Rock´N Roll Songs gecovert. Ich habe aber immer schon selbst Lieder geschrieben und getextet. Für mich war klar, dass das auf Englisch passieren muss. Das ist auch eine Sache des Klanges. Ich bewundere Leute, die auf Deutsch singen können. Ich kann es nicht.
Es gab für mich außerdem zwei Schlüsselerlebnisse. Das erste in der Unterstufe, in Wörgl. Dort wurde mir eine ganz bestimmt Version des Jazz näher gebracht. Dixieland und Swing. Ich weiß noch wo Oskar Klein gemeint hat, dass Chick Corea kein Jazz sei! Aber egal: Ich habe diese Energie ganz hautnah mitbekommen. Zum zweiten war die „Eremitage“ in Schwaz wichtig. Dort habe ich Leute wie John Scofield oder Bill Frisell erlebt.
Insgesamt muss ich sagen, dass für mich auch damals schon, als ich Rock spielte, Improvisation im Vordergrund stand. Etwas, das in der heutigen Rockmusik weitestgehend verloren gegangen ist. Es gibt wenige Rockmusiker, die das überhaupt noch können.
Würdest du dich als Rockmusiker bezeichnen? Möchtest du die Improvisation wieder in die Rockmusik hereinholen?
Das ist nichts, das ich über das Knie brechen möchte. Das ist für mich ein ganz normaler Zugang. Ich bin so aufgewachsen. So habe ich es gehört. So spiele ich auch.
Das heißt, dass dieser Umgang für dich ganz natürlich ist. Du möchtest nichts erzwingen!
Etwas erzwingen ist meistens nicht gut. Ich höre in mich hinein und sehe, was dann herauskommt. Was für mich aber tatsächlich einen hohen Stellenwert hat sind „reine Songs“. Zum Beispiel nur Akustik-Gitarre zu spielen, keine Soli, nichts. Ich habe Respekt vor Leuten, die mit vier Akkorden einen aussagekräftigen Song schreiben können.
Ich verstehe dich da sehr gut. Auch die sogenannte „freie Musik“ kann ja ein Gefängnis werden. „Freiheit“ kann ein Gefängnis sein. Ich nehme mir zum Beispiel die Freiheit heraus, die „Unfreiheit“ eines fix fertigen Songs zu akzeptieren.
Ja. Oder einen Groove zu spielen, wie ich es beim gestrigen Konzert im „Early Bird“ in Innsbruck getan habe. Für mich ist das interessant. Wir können einen Groove spielen, wir können aber auch „Noise-Passagen“ spielen. „Free-Jazz“ ist zum Teil wieder zu einem eigenen Dogma geworden. Die Menschen ziehen sich ja teilweise auch an wie im Jahr 1965.
Ich würde mich als „Highbrow/Lowbrow-Typen“ bezeichnen. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich Wes Montgomery oder Angus Young anhöre. Beides sind Typen, die einen eigenen Sound entwickelt haben. Jeder Ton ist echt. Ob ein Musiker 3000 Tonleitern kann oder nicht finde ich nicht entscheidend.
Manchmal kann es bei einer Groove-Sache Sinn machen, wenn ich nur einen Ton spiele und diesen gekonnt platziere und setze. Darauf kommt es an.
Martin Nitsch beim diesjährigen "Outreach" (Bild: Martin Vandory)
Martin Nitsch beim diesjährigen „Outreach“ (Bild: Martin Vandory)

Kann man sagen, dass es um die Musik an sich geht, nicht um das „Ego“?
Ja. Bei einer Band kann es auch mal sein, dass ich manchmal gar nichts spiele. Ich präferiere beim Spielen die Bezeichnung „real time composing“. Ich möchte es nicht „jammen“ nennen. Ich versuche das gesamte Gefüge zu hören, das entsteht. Ich versuche zum Beispiel im Moment griffige Motive zu spielen, die dann wieder kommen – sodass das Gefühl entsteht, es wird ein Song gespielt.
Dazu ist auch deine musikalische Vielfalt entscheidend. Es geht darum, im richtigen Moment das richtige „Material“ zu verwenden.
Ja. Ich hatte auch das Glück, dass ich einige väterliche Musikerfreunde hatte, durch die ich immer wieder Zugang zu ganz verschiedenen Musikquellen hatte. Das geschah relativ früh. Das hat fast automatisch zu dieser Bandbreite geführt.
Mich würde vor allem interessieren, welche Rolle Punk bei dir als Haltung zu den Dingen und zur Musik spielt.
Punk war natürlich eine sehr inszenierte Sache. Dennoch gab es sehr authentische Figuren wie Joe Strummer von The Clash. Mir gefällt auch diese DIY-Haltung. Die Idee, sich nicht einem Dogma zu unterwerfen. Selbstverständlich ist Punk aber selbst zum Dogma geworden.
Punk war eine Zäsur. Im Heute hängt wohl niemand mehr dem musikalischen Punk-Dogma an.
Man muss bedenken, dass es diese Musik auch schon viel früher im Untergrund gegeben hat. Damals war aber die Zeit, dass sie in den Mainstream gerutscht ist. Als Zäsur war das wichtig, weil das ganze Rockgeschäft extrem selbstverliebt und dekadent geworden war.
Kommen wir ins Heute. Heute braucht es doch den „informierten Musiker“, der in ganz vielen Kontexten unterwegs ist und sich aus vielen Quellen bedient.
Das ist auf alle Fälle richtig. Wobei auch das nichts ist, das ich forcieren möchte. Viele „Jazz-Snobs“ haben eine ablehnende Haltung gegenüber Rockmusik, weil diese auch mal aus nur drei Akkorden bestehen kann. Das wäre ähnlich wie wenn ich in eine Banane beißen würde und enttäuscht bin, dass sie nicht nach Apfel schmeckt.
Wichtig ist es zu personalisieren. Man sollte kein „Hans-Dampf-in-allen-Gassen“ sein. Es ist nicht so, dass ich zehn authentische Country-Licks übe, damit ich diese dann authentisch spielen kann. Es ist wichtig, sich alles möglich anzuhören, aber auch rechtzeitig wieder zuzumachen – und zu schauen, was das mit einem macht und was dabei herauskommt.
Es muss also mit Persönlichkeit durchdrungen sein? Ich muss auch ein Filter sein. Was schließe ich aus, was lasse ich zu? Kann ich etwas für mich fruchtbar machen?
Ja. Mit dem Zugang zu so viel Material zum Beispiel über YouTube könnte man ja verrückt werden. Ich glaube, dass das nicht zielführend ist. So findet man nie etwas Eigenes.
Wie findet man zu etwas Eigenem?
Indem man es in Ruhe lässt. Nicht forciert, sondern das Ganze sitzen lässt. Das Unterbewusstsein arbeiten lässt. In einem Songwriting-Prozess bin ich oft erstaunt, was so alles daher kommt.
Das hat auch damit zu tun, die Dinge nicht zu forcieren, nicht zu erzwingen.
Ich unterrichte ja auch Improvisations-Klassen am Konservatorium. Dort ist es für mich ein wichtiger Aspekt, über Impulse zu reden. Beim Improvisieren sollte man nicht dem ersten, nicht den zweiten, möglicherweise aber dem dritten Impuls nachgehen. Man muss die gesamte Dramaturgie auch von außen betrachten können und sollte nicht zu involviert sein. Ich sehe mich oft wie ein Regisseur, der dieses hinzugibt, jenes wegnimmt, manches passieren lässt. Es ist wichtig, sich herauszunehmen.
Man muss zulassen können. Man muss Sachen „Sich-Ereignen“ lassen.
Ja, denn dann gibt es Situationen, die sich in ganz unerwartete Richtungen bewegen. Solche Konstellationen können natürlich unfassbar in die Hose gehen. Sie sind riskant.
Ich finde interessant, dass du dich als Regisseur bezeichnest. Wie kannst du da „loslassen“? Wie die Fäden aus der Hand geben?
Ich bin natürlich auch Teil der Inszenierung. Wenn es das braucht, dann spiele ich auch gar nichts. Nicht nur ich bin Regisseur, sondern jeder in der Band ist natürlich Mit-Regisseur. Wenn jeder seinem ersten Impuls nachgibt, dann spielt jeder immer. Und das ist furchtbar!
Danke für das Gespräch!

Titelbild: Martin Vandory

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

2 Comments

  1. Es zeugt von einem exorbitant hohem akademischem Niveau, wenn sogar schon eigens neue Termini wie z.B. „real time composing“ geschaffen werden…
    Dies mag zwar im Tiroler Raum beachtenswert wirken, allerdings frage ich mich, ob MN mit derartigen eigenen Begriffsbestimmungen auch auf dem Wiener Bankett Erfolg hat. Sein letztes Soloalbum lässt mich persönlich jedenfalls nicht daran glauben.

  2. Hallo Josi, ich möchte hier nicht für Martin Nitsch sprechen. Ich merke aber eines an: Diesen Begriff hat keineswegs Martin Nitsch erfunden. Er ist eigentlich weltweit relativ geläufig.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.