"Winter Morning Walks“: Sanftmütige Radikalität

8 Minuten Lesedauer

 Genres, Grenzen und Hybris


Schöne, kategorisierte, begrenzte und begrenzbare Musikwelt. Wer einen Plattenladen betritt findet Musik fein säuberlich in den korrekten Genres eingeordnet. In den Sparten Alternative und Indie finden sich zumeist trendbewusste, junge Menschen –  oder solche, die gerne trendbewusst und noch jung wären. In den Bereichen Jazz und Klassik trifft man tendenziell ältere Herren mit Brillen, die jetzt nach ihrer Emeritierung endlich wieder Zeit haben exzessiv Musik zu hören. Immer nur Thomas Mann lesen langweilt schließlich.
Das sind weitestgehend etablierte Bilder. Bilder, die uns beeinflussen, wenn wir Musik kaufen und hören.
Von Zeit zu Zeit kommen Aufnahmen und Werke auf den Musikmarkt, die solche Einteilungen gehörig durcheinanderschütteln und mit solchen Bildern zu brechen versuchen. Diese wurden und werden nur allzu gerne mit Ignoranz bestraft. Wo kommen wir auch hin, wenn eine Komponistin für Bigbands plötzlich klassische Musik für das australische Kammerorchester schreibt und mit einer Opernsängerin arbeitet, die regelmäßig an der „Met“ in New York singt.
Zu allem Überfluss mischt die Komponistin in diesen der Hybris verdächtigen Genre-Mix noch drei Musiker mit hinein, die sich zu der durchkomponierten Musik improvisatorischen Freiraum herausnehmen. Der Musikkritiker möchte bei solchen kompositorischen Werken am liebsten den Begriff „Crossover“ zücken und damit zum Ausdruck bringen, dass diese Mischung so gar nicht aufgeht und dass sich hier lediglich musikalische Elemente disparat gegenüber stehen, sich aber nicht berühren, nicht durchdringen und schon gar nicht auf einen gemeinsamen grünen Zweig kommen.


 Die Komposition „Winter Morning Walks“


Angesprochen ist damit das 2013 erschienene Album „Winter Morning Walks“ von Maria Schneider. Auf diesem wagt sich die Komponistin an eine Komposition heran, die sie der Sängerin Dawn Upshaw auf den Leib geschrieben hat.
Inspiriert wurde das neun Lieder umfassende Werk außerdem von Gedichten des Schriftstellers Ted Kooser. Dieser hat in den Zeiten seiner Krebserkrankung und der damit verbundenen Bestrahlung damit begonnen, kurze, fast schon Haiku-artige Gedichte zu Papier zu bringen.
Diese beschreiben vornehmlich seine morgendlichen Spaziergänge, die er unternahm, weil er laut seinem Arzt zu starke Sonneneinstrahlung vermeiden sollte. Er beobachtet in diesen die Natur, beschreibt Spaziergänge in der Dunkelheit. Wege, die er gemeinsam mit seiner Frau gegangen ist, meist aber alleine. Maria Schneider vertont diese ruhigen, von einem dunklen Unterton getragenen Gedichte kongenial.
Nun könnte diese Musik das sein, was sie nun einmal ist. Besonnene, kompositorisch brillante Musik irgendwo im Zwischenraum von wohlklingender Klassik, dezent avantgardistischen Tendenzen, improvisierter Musik und Jazz. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wäre diese Aufnahme ein Fest für Musikhörer, die sich die Mühe machen wollen alles exakt zu analysieren. Zum Beispiel zu hören, ob sich Dawn Upshaw hier rhythmisch mit ihrem Gesang nicht möglicherweise einem Jazz-Solo annähert.

Maria Schneider mit ihrer Bigband (Bild: Fernando Oriz de Urbina)
Maria Schneider mit ihrer Bigband (Bild: Fernando Oriz de Urbina)

Andererseits ist es spannend zu hören, was passiert, wenn frei improvisierte Momente auf strikt durchkomponierte Musik treffen. Das Ergebnis ist nämlich weit von jeglichem Crossover-Gedanken anzusiedeln. Die Idee hinter „Winter Morning Walks“ ist nicht, zwei Musikwelten aufeinanderprallen zu lassen, sondern schlicht und einfach zu ignorieren, dass es so etwas wie zwei (oder mehrere) Musikwelten jemals gegeben hat.
Hier sind die Dämme gebrochen, die Grenzen niedergerissen. Dass diese in den letzten Jahren wohl singuläre Komposition auch noch leichtfüßig, locker und unaufgeregt daherkommt ist erstaunlich. Kein radikaler Gestus, kein ostentatives Avantgarde-Getue, kein Ego-zentrierter Genie-Kult der Komponistin. Sie komponiert Musik. Für Bigbands und für Kammerorchester. Es ist Musik ist Musik ist Musik. Mehr nicht. Sie genügt sich selbst und möchte sich und dem Hörer nichts beweisen. Genau deshalb ist sie grundlegend radikal.
Maria Schneider und Dawn Upshaw: Zwei Musikwelten, die zusammen neues erschaffen haben (Bild: Jimmy & Dena Katz)
Maria Schneider und Dawn Upshaw: Zwei Musikwelten, die zusammen neues erschaffen haben (Bild: Jimmy & Dena Katz)

Maria Schneider schafft es auf anderen Aufnahmen einer Klarinette ebenso stimmlichen Charakter zu geben wie sie es hier bei Dawn Upshaw vermag. Das Ergebnis ist bei „Winter Morning Walks“ hochgradig emotionale Musik, die den Hörer aber nicht zwanghaft anrühren oder gar zu Tränen rühren möchte. Wer diese Musik an sich heran lässt, wird wie von selbst berührt sein.
Maria Schneider komponiert mit einer Natürlichkeit, die stellenweise fast sprachlos macht. Und zugleich unendlich glücklich. Es wirkt stellenweise so als wäre jetzt das volle Panorama erst hörbar geworden. Wer Musik nach Genres und Stilen unterteilt, blickt auf Musik wie durch einen bestimmten und bestimmenden Rahmen. Dieser Rahmen gibt Sicherheit. Aber er nimmt auch die volle Sicht auf Musik, die, wenn sie denn gut und mutig genug ist, eigentlich gar keinen Rahmen braucht. Rahmenlose, bunte, brillante Musik.
Möglicherweise hat Maria Schneider mit „The Thompson Fields“ ihren Weg noch konsequenter fortgesetzt, obwohl sie dort wieder mit ihrer Bigband arbeitet. Doch die Musik dort atmet letzten Endes die Offenheit, die sie mit „Winter Morning Walks“ erreicht und ermöglicht hat.
Danach war klar, dass eine Klarinette wie eine Opernsängerin klingen kann. Es war kein Problem mehr, dem Jazz, eigentlich als größtenteils improvisierte Musik definiert, Momente der Improvisation zu nehmen und auskomponierte Werke zu etablieren, die dennoch improvisatorischen Freiraum lassen.
Unter den sanften, lyrischen und manchmal auch enigmatischen Melodien von Maria Schneider kollabieren, fast unbemerkt, Genre-Grenzen. Sie erschafft Kompositionen voller sanftmütiger Radikalität. Somit musst „Winter Morning Walks“ als der Meilenstein in ihrer Musikkarriere gedacht werden, der „The Thompson Fields“ erst denkbar gemacht hat.
„Winter Morning Walks“ ist aber ein Meisterwerk für sich, das zu wenig wahrgenommen wurde und immer noch zu wenig rezipiert und aufgeführt wird. Man sollte es jetzt, fast drei Jahre nach der Veröffentlichung, wieder hören. Und staunen, was so alles möglich wäre, wenn wir die Musikwelt nicht mit sinnlosen Grenzen einengen würden. Es ist Musik, die jedem offenen Musikhörer, der Melodien und echte Emotionen mag, gefallen könnte. Wenn wir uns nur nicht wieder in einem eingeschränkten Genre-Denken verlaufen würden.


Zum Reinhören


Titelbild: (c) Ivo Martins

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Ich kopiere aus der SZ nach dem Münchner Konzert, weil ich es nicht besser sagen kann: …“Viel hat sich in den letzten Jahren getan, völlig neue Orchestrierungen und Soundstrukturen wurden ausgebrütet. Nach wie vor aber gibt es keine Bigband, bei der sich die Gegensätze zwischen solistischem Glanz und orchestraler Wucht, zwischen klassischer Form und avantgardistischer Freiheit so harmonisch auflösen.“
    So, jetzt wieder ich: Dawn Upshaw klingt traumhaft schön – ich werde mir die CD noch oft anhören. Vielen Dank für den Tipp!

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