Plattenzeit #83: Björk – Utopia

6 Minuten Lesedauer

Matriarchat


Nach der großen Trennungsplatte „Vulnicura“ kommt die Isländerin und Teilzeit-New-Yorkerin Björk Guðmundsdóttir  jetzt mit einem Album an, welches das Gegenstück zum Vorgänger bilden soll. Sinnigerweise tauft sie es „Utopia“, was aus dem griechischen übersetzt so viel wie „Nicht-Ort“ oder „Nicht-Örtlichkeit“ heißt. Wir haben es also mit einem Wunschtraum zu tun, mit einem Entwurf einer Gesellschaft, die es so noch nicht gibt.
Wie derzeit bei gefühlt 100 % der Künstlerinnen und Künstler, die sich Teilzeit oder Vollzeit in den USA aufhalten, hatte Donald Trump laut einem Björk-Interview daran einen bestimmten Anteil. In einer Gesellschaft, in der sexistische weiße Männer an der Spitze stehen, muss sich frau einfach weg träumen und nach der baldigen Verwirklichung eines Matriarchats sehnen. Auch Lars von Trier, so darf man spekulieren, ist an dieser Utopie-Idee nicht ganz unschuldig, zumal dieser ein Mann ist, der seine Triebe einfach schlecht im Griff hat und somit für den einen oder anderen „MeToo“ Hashtag verschuldete.
Soweit, so uninteressant. Weinerliche und musikalisch irrelevante Anti-Trump-Platten, die sich nach dem wahren Amerika zurücksehnen, darf man getrost Tori Amos oder ähnlichen Musikerinnen überlassen. Die Platte wäre nämlich keiner Rede wert, wenn die Musik auf „Utopia“ nicht derart gut wäre. Die Musik klingt darauf so frisch und experimentierfreudig wie selten. Was im Björk-Kontext doch einiges heißt.
Zurück in das Reich der hochgradig relevanten Künstler hat sie aber bereits 2015 schon Arca katapultiert, der ihr schon auf „Vulnicura“ als Produzent, Beatbastler und elektronischer Vordenker zur Seite stand. Auf „Utopia“ befördert sie eben diesen noch einmal. Kam er beim Vorgänger erst im Laufe der Zeit dazu, war er bei „Utopia“ von Beginn an dabei und durfte auch Songs mitschreiben. Manu Delago ist auf dieser Platte hingegen nicht zu finden. Ob das mit dem strikten Matriarchatsentwurf zu tun hat, ist nicht überliefert. Fehlen tut er im Gesamtsound jedenfalls nicht.
Denn Arca schöpft aus dem Vollen. Field-Recordings von venezuelanischen Vögeln sind da erst der Anfang. Auch in Sachen Beats hat er sich sehr in Zeug gelegt. Dass er mit Björk auf dieser Platte mithalten kann spricht sehr für ihn und seinen Entdeckergeist. Denn Björk nimmt bei ihrem Gegenwelt-Entwurf keine Gefangenen und geht aber sowas von überhaupt keine Kompromisse ein. Selten zuvor in ihrem Schaffen waren Techniken und Spielarten der sogenannten „Avantgarde“ so präsent wie au „Utopia“.
Basis von sehr vielen Tracks bildet zum Beispiel ausgiebiges Geflöte. Für ebendieses gründete Björk kurzerhand ein 12-köpfiges Frauen-Flötenorchester. Auf „Utopia“, dem Titeltrack, entfaltet dieses seine volle Macht und Wirksamkeit. Zum Teil wähnt man sich in einem Konzert mit „Neuer Musik“, in der ja in letzter Zeit ebenfalls die Flöte als archaisches Instrument wieder entdeckt wurde.
Die Musik auf „Utopia“ klingt insgesamt sogar für Björk-Verhältnisse außerordentlich komplex. Sogar der björkerprobte Hörer ist manchmal überfordert, was zum Teil auch mit der Überlänge von rund 70 Minuten zu tun hat. Eine Plattenlänge, die in letzter Zeit ein wenig aus der Mode gekommen ist. Lieber kurz, kompakt, konzise und ohne Füller lautet die Devise. Ob „Utopia“ Füller hat lasst sich schwer ausmachen. Denn schließlich sind alle Stücke Puzzle-Teile des Ganzen, die man nicht einfach herausnehmen kann.
Deutlich wird im Verlauf des Albums, dass Björk aus ihrer Geschichte schöpft und zum Teil doch erfrischend „unbjörkig“ klingt. Das berühmte rollende „R“ wird gar erst im dritten Track bemüht. Dafür zirpt sie etwa in „Blissing Me“ so so sanft und aufrichtig wie schon seit „Vespertine“ Zeiten nicht mehr. Die Melodien sind stark und haken sich ein, wenngleich es diese erst zu entdecken gilt.
Hits wie „Human Behavior“ finden sich auf „Utopia“ aber ganz sicher nicht. Aber das bekam man ja bereits auf den letzten Platten nicht geliefert. Wer das noch immer vermisst, wird mit „Utopia“ ganz bestimmt nicht glücklich. All jene, denen es an den Rändern der gegenwärtigen Popmusik mit Falltüren in Richtung Avantgarde erst so richtig gemütlich erscheint, werden das Album hingegen abgöttisch lieben.


Fazit


Auch nach mehrmaligem Hören nutzt sich „Utopia“ nicht ab. Im Gegenteil. Der eine oder andere Twist erscheint erst dann so richtig logisch und motiviert. Schicht wurde hier kunstvoll auf Schicht drapiert, Idee an Idee geknüpft und der roten Faden dennoch im Auge behalten. Noch ist es zu früh um es zu sagen. Aber es ist gut möglich, dass Björk mit „Utopia“ einen zukünftigen Klassiker vorgelegt hat. Jedenfalls reiht es sich aber bei einer Liste der besten Björk-Album sehr weit vorne ein.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) Iceland Airwaves, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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