Journal einer Reise: Die vergessene Jazzstadt im tiefsten Bayern

16 Minuten Lesedauer

Die „Jazzstadt“ Burghausen


Ein Begriff fällt sehr schnell. Bereits nach wenigen Stunden Aufenthalt in dieser Stadt. Burghausen sei eine „Jazzstadt“. Eine kühne Aussage und Ansage in der heutigen jazzfernen Zeit.
Das setzt natürlich voraus, dass diese Stadt in Oberbayern nicht nur ein Jazzfestival hat, das sich von der Stadt abgrenzt und sich in seinen Elfenbeinturm verkriecht, sondern sich dieses hin zur Öffentlichkeit und zum städtischen Raum öffnet. Festivals die „ihren“ Jazz verteidigen und sich auf kohärente aber anachronistische und bestenfalls charmant-elitären Konzepte versteifen, finden sich im deutschsprachigen Raum schließlich zuhauf.
Burghausen möchte anders sein. Burghausen möchte Jazz leben und die Stadt in dieser Woche zu einer einzigen großen Jazzmeile umfunktionieren. Jazz soll dominantes Thema sein. Er soll an allen Ecken und Ende omnipräsent sein, in jeder Bar gespielt werden und die Besucherinnen und Besucher durch die Nacht begleiten. So hat man etwa die „Jazz-Night“ konzipiert. So war auch klar, dass nach den Konzerten in der Wackerhalle oder im Stadtsaal im „Jazzkeller“ weiter gespielt und improvisiert werden sollte.
Die „Jazzstadt“ gibt sich damit aber nicht zufrieden. Denn allein den Jazz hin zur Stadt zu öffnen reicht natürlich nicht. Auch um eine „GPS City Tour Jazz “ kam man nicht umhin. In dieser kann sich der Jazz-Interessierte Gast auf die Suche nach den Spuren machen, die Größen der Jazz-Szene von den 70ern an bis ins Heute hinterlassen haben.
Sichtbar werden diese Spuren auch ganz ohne APP und ohne Smartphone, etwa bei der „Street Of Fame“. Die Namen, über die sich auf dieser Straße mondän flanieren lässt sind die Namen der Jazz-Weltstars von damals bis in die Gegenwart.
Wer eine wirkliche „Jazzstadt“ sein will muss außerdem den Nachwuchs-Jazzern die Möglichkeit eines Auftrittes und eines Preises geben. 2009 wurde dieser Nachwuchs-Jazzpreis zum ersten Mal verliehen und ist ganz und gar nicht übel dotiert.
Es ist somit alles angerichtet. Die Behauptung eine „Jazzstadt“ zu sein wird an allen Ecken und Enden verdeutlicht und forciert. Alle Zeichen, Codes und Handlungen der Stadt sind so gesetzt, dass der Besucher nicht an diesem ersten Eindruck zweifelt. 47 Jahre „Jazzwoche Burghausen“ sprechen außerdem wohl auch eine deutliche Sprache. Dennoch muss sich eine „Jazzwoche“ von behauptetem internationalem Rang nicht nur am Grad der Öffnung und öffentlichen Akzeptanz in der Region und in der Stadt messen lassen, sondern vor allem auch am Konzept.


Das Konzept


Es gibt auch anderswo mehr oder weniger gute Jazzfestivals. Vor allem in Österreich feiert die sogenannten „freie Musik“, die früher einmal etwas unpräzise als „Free-Jazz“ bezeichnet wurde und immer noch bezeichnet wird, fröhliche Urständ. So sehr man diese Art des Musizierens schätzen mag, sie hat ein Problem: Sie zieht im deutschsprachigen Raum nur wenige Interessierte an. Von einer Öffnung hin zur Stadt kann überwiegende keine Rede sein. Die eigenen ästhetischen Grundsätze werden zelebriert, während ein großer Teil der Stadt- oder Landbevölkerung zwar die Tatsache schätzt, dass es ein Festival vor Ort gibt, das Geld in die Kassen der Region spült, letzten Endes aber verständnislos dieser schrägen Musik gegenüber bleibt.
Das Konzept das Burghausen verfolgt scheint anders zu sein. Strikte ästhetische Vorstellungen, was Jazz ist und was nicht, stehen nicht im Mittelpunkt. Eine Fokussierung auf zeitgenössische und strikt avantgardistische Spielformen gibt es nicht. Vielmehr wird die Vielfalt betont. Von den experimentierfreudigen Spinnern von „Hildegard lernt fliegen“ bis hin zu den eher kommerziellen und gar radiotauglichen „Electro Deluxe“, die sich samt Bigband in die Wackerhalle wagten, ist alles denkbar und im Programm vertreten.
Joe Viera, einer der Gründer der „Jazzwoche Burghausen“ merkte an, dass die Jazzwoche nicht nur in der Bundesliga, sondern definitiv in der Champions-League spiele. Damit einher geht ein gewisser Pragmatismus und Realismus, was die Programmgestaltung betrifft. Allzu Experimentelles wird an den Samstag in den Stadtsaal verlegt, leichter Konsumierbares darf sich in der Wackerhalle ausbreiten. In der Wackerhalle werden dann auch, nach eigener Erfahrung, die Grenzen zum Pop oder zum Funk gerne mal überschritten. Ganz so als habe es diese Grenzen nicht gegeben. Hier gibt sich der Jazz durchgängig eher sanft, eingängig und handzahm.
Das Festival geht aus diesem Grund in zwei Richtungen, wenn es um Jazz geht: Einerseits Jazz als Musik, in der laut vorausgedacht und versucht wird innovatives Klang-Neuland zu betreten. Andererseits der Jazz als Spielart, die sich zwar auf die reichhaltige eigene Musikgeschichte bezieht, damit aber auch manchmal etwas leichtfertig bricht und sich seichteren Spielarten annähert. Damit wird implizit die Behauptung getroffen, dass Jazz ja gar nicht so schlimm wie sein Ruf sei. Er sei viel weniger sperrig, viel zugänglicher und viel tanzbarerer, als die Mehrheit so vermutet.
Das Konzept hinter der „Jazzwoche Burghausen“ ist somit nicht ganz kohärent, bezieht möglicherweise aber genau daraus seine Stärke: Zum einen wird Jazz als komplexe und experimentelle Kunstform gewürdigt und gepflegt, zum anderen wird auch jazzverwandten Genres genügend Raum gegeben. Wie groß die Durchlässigkeit dieser beiden Ebenen ist kann nur schwer beschrieben werden. Sind es dieselben Leute, die tags zuvor bei einer leicht angejazzten Version von „Staying Alive“ getanzt haben und die sich am Tag darauf zu Standing-Ovations bei der Schweizer Band „Hildgard lernt fliegen“ hinreißen haben lassen? Man darf es bezweifeln. Aber es wäre zumindest denkbar und absolut wünschenswert.
Im Falle jedenfalls, dass dieses Konzept vollständig aufgeht, wären zwei gegensätzliche Entwicklungen des Jazz wieder vereint. Jazz als Kunstmusik und Jazz als Unterhaltungsmusik. In Burghausen wird an dieser Vereinigung und Zusammenführung zumindest gearbeitet.


Die Konzerte


Besucht wurden die Konzerte von der französischen Bigband „Les Lapins Superstars“, von der Electro Deluxe Big Band feat. Beat Assailat“, das Konzert von „Hildegard lernt fliegen“ und von „Guillaume Perret & The Electric Epic“. Außerdem war ein Besuch im „Jazzkeller“ und der am Samstag stattfindenden „Jazz-Night“ obligatorisch.
Allein von diesen Konzerten und Veranstaltungen lässt sich eine enorme stilistische Bandbreite der „Jazzwoche Burghausen“ ablesen. Es ist denkbar, dass das Konzept der Öffnung und der Darstellung und Zusammenfügung von disparaten Entwicklungen des Jazz an dieser Bandbreite kollabiert oder erblüht. Jedes Konzept muss sich letzten Endes an seiner Umsetzung messen lassen.
Les Lapins Superstars
Eröffnet wurde der Abend in der „Wackerhalle“ von der französischen Band Les Lapins Superstars“. Hinter diesem Namen versteckt sich eine Bigband, für die stilistische Grenzen nur auf Papier Geltung zu haben scheinen. Ob das Jazz ist? Funk? Ska? Ganz einfach Tanzmusik, die vor allem auf den großstädtischen Straßen funktioniert? Es ist ein einfacher Schritt, sich diese Musik im Rahmen einer großstädtischen Demonstration vorzustellen, die Buntheit und Vielfalt einfordert.
Es ist sehr naheliegend, diese Band mit großen, rauschenden Festen in Verbindung zu bringen. Es ist evident, dass es bei dieser Musik weniger um spielerische Präzision und Exaktheit geht, sondern vielmehr um ganz viel improvisatorische Freiheit und Spontanität. Während man anfangs noch einigermaßen unbeteiligt vor dieser großen Party-Band stand, sprang der Funke nach ein paar Liedern über. Es durfte getanzt werden. Verständlicherweise stieß diese Band auf Begeisterung bei einer Schreiber-Kollegin.
Electro Deluxe Big Band
Mit der darauf folgenden Band „Electro Deluxe Big Band“ wurden Grenzen niedergerissen oder kurzerhand ignoriert, die auch schon bei der Band zuvor in all ihrer Buntheit keinen wirklichen Platz hatten. War die Band zuvor aber charmant unperfekt und mitreißend spielfreudig, so wurden diese Eigenschaften hier mit viel Lautstärke, Choreographie und Inszenierung ersetzt. Es durfte nicht, es musste mitgeklatscht und mitgesungen werden.
Der Sänger der Band ist wohl das, was man allgemein als „Frontsau“ bezeichnet. Jeder Millimeter an Struktur wurde mit Sound zugepflastert, der Sound war drängend, möglicherweise auch aufdringlich und penetrant. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wurde zunehmend getanzt, während andere, eher am Hörgenuss interessierte BesucherInnen zunehmend gelangweilt in ihren Sitzen abhingen oder gar ein kleines Nickerchen machten. Interessantes zu hören gab es nämlich eher weniger, zu tanzen und zum Klatschen aber umso mehr.
Hildegard lernt fliegen
Ein krasses Kontrastprogramm gab es am nächsten Tag, zunächst mit „Hildegard lernt fliegen“. Bei dieser komplizierten, aber leichtfüßig und unglaublich charmant vorgetragenen Musik jenseits stilistischer Einschränkungen, gab es so viel zum Hören, dass einem beinahe die Ohren übergingen. Vor allem der Frontmann Andreas Schaerer imitierte Tropfsteinhöhlen, Flugzeuge, beat-boxte und sang sich mit atemberaubender Virtuosität durch die mäandernden und Haken schlagenden Songs. Zum Schluss, verdient, tosender Applaus –  inklusive Standing-Ovations.
Guillaume Perret und „The Electric Epic“
Zum Hören gab es auch beim darauf folgenden Act viel. Vielleicht zu viel. Und möglicherweise zu laut. Guillaume Perret und „The Electric Epic“ probierten es mit einem Gebräu aus experimentellen Klangflächen, allerlei Effekt-Geräten durch die Saxophon gejagt wurde und  Metal-Einflüssen. Repetition, Lautstärke und Eindringlichkeit waren domiant, wo zuvor bei Hildegard lernt fliegen noch Subtilität gewaltet hatte.
Die teilweise hochinteressanten Sounds verfehlten wohl leider ihre Wirkung. Scharen von frustrierten und vor allem von der Lautstärke überforderte ZuhörerInnen verließen den Raum. Womöglich wäre dieser Act besser  bei einem „Noise-Festival“ aufgehoben gewesen. Möglicherweise sind die offenen Ohren der Zuhörer für diese Spielart noch zu wenig offen gewesen. Als bewusstes In-Kontrast-Setzen von Subtilität und Brachialität war dieser Abend insgesamt aber mehr als gelungen.
Jazz-Night
In der anschließenden „Jazz-Night“ war von der „Klangstürmerei“ und dem Innovations-Bewusstsein dieses Abends wiederum nichts zu merken. Hier zeigte sich die „Jazzwoche Burghause“, verständlicherweise, von seiner zugänglichsten Seite. Auch ein sich als Elvis gerierender Sänger samt 50-Blues-Rock-Band hatte hier seine Berechtigung. Der Jazz als Massenereignis, das auch Spaß machen darf. Absolut legitim und für eine „Jazzstadt“ natürlich unverzichtbar. Auch tags zuvor war im „Jazzkeller“ auf hohem Niveau altbewährt „gejammt“ wurden. Hier war der Jazz gelungene und unterhaltsame Hintergrundbeschallung, bei dem sich einigen solistischen Highlights mittels Szeneapplaus goutieren ließen.


Fazit


Das Fazit ist einfach: Ja, Burghausen kann „Jazzstadt“. Burghausen kann Avantgarde. Burghausen kann aber auch den Jazz als schmeichelnd, zugänglich und tanzbar präsentieren. Im Gegensatz zu anderen Festivals gibt es hier nicht die eine ästhetische Konzeption, die auf Biegen und Brechen durchgezogen wird. Stattdessen lässt sich das Konzept an den einzelnen Abenden ablesen. Während am Freitag laut über Bigbands nachgedacht wurde, stand der zweite Abend implizit unter dem Motto, wie sich mit Chaos und Komplexität umgehen ließ.
Die einzelnen Antworten auf diese Fragen waren, vom eigenen Geschmack ganz unabhängig, hochinteressant. Auch wenn sich jemand persönlich nicht wünschen mag, dass die Zukunft der Bigbands wie bei „Electro Deluxe“ klingt, so muss zumindest anerkannt werden, dass die Formulierung dieser Möglichkeiten konzise getroffen wurde.
Burghausen zeigte auf, was der Jazz im Heute alles leisten kann. Und auch, dass noch viel Arbeit in diesem Bereich notwendig ist, um die avantgardistischen Tendenzen mit den kommerziellen Tendenzen zu versöhnen. Im Moment bleibt es mehr bei einem produktiven Nebeneinander als bei einem kreativen Miteinander.
Dennoch: Burghausen ist und bleibt die „vergessene“ Jazzstadt, deren Strahlkraft zu Unrecht in etwa 100 Kilometer, vor allem Richtung Salzburg und München, reicht. Auch als Österreicher lohnt es sich diese Stadt und die dortige „Jazzwoche“ zu entdecken. Auch wenn dort nicht alles gelingt, sind es doch hochinteressante Fragen, die sich nach dem Besuch dieser „Jazzwoche“ an den Jazz stellen lassen.


Zum Reinhören






Impressionen


 

Einer der Gründer "Jazzwoche Burghausen" im Heute: Joe Viera (Bild: Felix Kozubek)
Einer der Gründer „Jazzwoche Burghausen“ im Heute: Joe Viera (Bild: Felix Kozubek)

Laut, mächtig, brachial: Guillaume Perret und "The Electric Epic (Bild: Felix Kozubek)
Laut, mächtig, brachial: Guillaume Perret und „The Electric Epic (Bild: Felix Kozubek)

Hildegard lernt fliegen in Burghausen: Federleichte Komplexität (Bild: Felix Kozubek)
Hildegard lernt fliegen in Burghausen: Federleichte Komplexität (Bild: Felix Kozubek)

Ja, auch Chick Corea hat Burghausen schon einmal beehrt (Bild: Patrick Bock)
Ja, auch Chick Corea hat Burghausen schon einmal beehrt (Bild: Patrick Bock)

 

Titelbild: Felix Kozubek

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Hi Markus,
    oh, pardon, gerade erst gesehen, dass ich die „tanzende Kollegin“ bei den Lapins bin! Jep, als Jazz-Banausin war das für mich ein prima Einstieg. Mal schaun‘, ob es mehr wird. Die Konkurrenz – Museum, Theater, Musik und Familienwahnsinn ist groß, der Wunsch mich auf Jazz mehr einzulassen ist durch die Jazzwoche in Burghausen gewachsen.
    Hat mich sehr gefreut, dich und Felix, kennengelernt zu haben – klasse – ihr bereichert meine Bloggerwelt. Werde euren Post noch als Nachtrag bei mir aufführen, auch den zweiten, kritischen zur „Zukunft“ von Jazz-Festivals.
    Alles Gute und bis bald!
    Herzlich,
    Tanja

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