(c) Helmuth Schönauer

Unlösbar

3 Minuten Lesedauer

Peter Handke verdanken wir nicht nur Literatur auf Nobelpreis-Niveau, sondern auch praktische Übungen, wie wir den Alltag meistern könnten.

Während seines aktiven Jus-Studiums in den 1960ern hat der spätere Text-Meister mit dem Genre „Jus-Lehrstück“ experimentiert, manche sagen, er habe es erfunden.

In seinem mittlerweile weltberühmten Fallbeispiel geht es darum, dass einem Vater vorgeworfen wird, er habe sein Kind zu Boden fallen lassen und es dadurch zu Tode gebracht.

Vor Gericht nimmt er, um seine Unschuld zu beweisen, sein zweites Kind, aber dieses fällt auch wieder zu Boden und ist ebenfalls tot.

Das Gericht steht vor einem unlösbaren Problem, und der Nutzer dieses Lehrstücks ist animiert, über diesen Fall zu diskutieren.

Das Genre „Jus-Lehrstück“ spielt in seiner ursprünglichen Fassung in Graz und Umgebung

Tiroler Schriftstellern außerhalb des Felix-Kosmos ist es nun gelungen, das Lehrstück nach Tirol zu bringen und zu adaptieren.

Das Paradebeispiel eines Tiroler Lehrstücks zeigt einen unlösbaren Fall im pädagogischen Milieu.

Der Fall geht so:

Eine Innsbrucker Pädagogin ist so hässlich, dass die Kids, die zu Hause an Tiktok gewöhnt sind, zu schreien beginnen, wenn sie ihrer ansichtig werden.

Eltern stehen vor dem Dilemma, entweder die Pädagogin entfernen zu lassen oder dem Kind den Tiktok-Gebrauch zu verbieten.

Unlösbar! 

Die einheimischen Gerichte versuchen, sich befangen zu erklären, und reden von eigenen hässlichen Gesichtern, die sie befangen machten.

Aber nach einem Rundlauf durch alle Gerichte Österreichs bleibt der Fall wieder an seinem Ausgangsort hängen.

Jetzt muss durch-judiziert werden, welche Freiheit zählt.

Wenn nämlich zwei große Freiheitsströmungen aufeinander prallen, kracht es wie bei der Kernspaltung, und alles kann nur gekühlt, nicht aber ungeschehen gemacht werden.

Die eine Freiheit sagt, dass auch hässliche Pädagoginnen unterrichten dürfen, wenn sie, abgesehen vom Gesicht, o.k. sind.

Die andere Freiheit gesteht dem Kind das Recht zu, von einer einwandfreien (auch im ästhetischen Sinne) Person belehrt oder unterrichtet zu werden, wie es bei Tiktok üblich ist.

Wie im Ur-Stück von Peter Handke ist das Lese-Publikum abermals aufgerufen, sich den Fall zu Gemüte zu führen und für sich selbst zu lösen.

STICHPUNKT 22|79, geschrieben am 11.10. 2022

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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