Adam Smith Statute. Kapitalismus? Foto von K. Mitch Hodge auf Unsplash

Adam Smith: Die Humanität zuerst

Wer ist Adam Smith? Urvater des Kapitalismus? Oder mehr?

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Der Schotte Adam Smith, der heutzutage gemeinhin als gedanklicher Urvater des Kapitalismus, Verfechter freier Märkte sowie für viele gar als Begründer der modernen Ökonomie gilt, war tatsächlich in erster Linie Humanist und Philosoph – und erst in zweiter Linie Ökonom.

Das Jahr 2023 markiert den dreihundertsten Geburtstag des Universalgenies – ein guter Grund, sich näher mit ihm und seiner Gedankenwelt zu befassen. Der Versuch einer Annäherung zeigt: Seine Thesen sind im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wertvoller denn je.

Das Menschenbild

Was geht in uns vor, wenn wir jemanden sehen, der Schmerzen hat? Wie fühlen wir uns, wenn wir einen Witz erzählen, über den niemand lacht? Sind wir Menschen von Natur aus egoistisch oder wohlwollend? Dies sind Fragen, die sich Adam Smith in seinem Hauptwerk, der „Theorie der ethischen Gefühle“ (im Original „The Theory of Moral Sentiments“), das 1759 veröffentlicht wurde, aufwirft. In diesem Werk zeichnet Smith das Bild eines empathischen, mitfühlenden Menschen und beschäftigt sich damit einhergehend mit grundlegenden Fragen der Moral und Ethik. Er argumentiert, dass moralische Standards und Tugenden wie Mitgefühl, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung und Fairness notwendig sind, um eine harmonische Gesellschaft aufzubauen und das individuelle und soziale Wohl zu fördern.

Ein Gedankenexperiment

In der Theorie der ethischen Gefühle spielt Smith etwa ein Gedankenexperiment und fragt sich, ob ein Mensch, der von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter ohne jegliche Interaktion mit einem anderen Menschen aufwächst – zum Beispiel auf einer einsamen Insel – und nie ein Wort oder einen Gedanken mit einem anderen Menschen wechselt, ein angemessenes moralisches Empfinden haben kann. Smith verneint dies: Was dieser Mensch hätte, wären Vorlieben und Abneigungen, so etwa: Ich finde den Gesang dieses Vogels ansprechender als den einen anderen; ich mag den Sonnenaufgang mehr als den Sonnenuntergang.  

Die Moral

Aber die Fähigkeit, das eigene Handeln zu hinterfragen? Davon hätte dieser Mensch keine Ahnung. Grund dafür, so Smith, ist die Tatsache, dass er nicht den Spiegel hat, den die Gesellschaft uns über unser eigenes Verhalten vorhält. Wir werden zu moralisch Handelnden, wenn wir miteinander interagieren, und in dem Maße, in dem wir das nicht tun, ist unsere moralische Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Für Smith bedeutet dies, dass der Umgang mit anderen – also vor allem die Kommunikation in der Gesellschaft mit anderen Menschen – für die richtige und gesunde Entwicklung des moralischen Empfindens absolut entscheidend ist. Der regelmäßige Austausch und die Erfahrung mit anderen Menschen, zu sehen, wie sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere beurteilen, ist ein notwendiges Korrektiv für das eigene Verhalten.

Diesbezüglich entwirft Smith den so genannten „unparteiischen Beobachter“ (im Original „impartial spectator“) – überdies weitaus häufiger von Smith bemüht als seine ins breite Allgemeinwissen eingegangene „unsichtbare Hand“ – eine imaginäre Figur, die unsere Handlungen beobachtet und ethisch bewertet. Das Wissen um diesen Beobachter, so Smith, beeinflusst unser Verhalten und motiviert uns, moralisch zu handeln, um Anerkennung und Zustimmung zu erhalten.

Homo Oeconomicus

Wie ersichtlich ist, könnte Smith also nichts fremder sein als der strikt rational und stets nutzenoptimierend denkende Homo Oeconomicus, der erst lange nach Smith Einzug in wirtschaftswissenschaftliche Modelle fand. Gerade dieser Homo Oeconomicus – im Gegensatz zu dem, wenn man so will, Smith‘schen „Homo Empathicus“ – ist vorranging in den Modellen moderner Ökonomen anzutreffen.

Der Empirist Smith erkennt schnell: Gleich einem Naturgesetz entstehen überall da, wo Menschen aufeinandertreffen, Märkte – insofern verwundert es nicht, dass Smith als profunder Menschenkenner auch deren wirtschaftliches Handeln genau analysierte. Konfrontiert wurde er damit bereits als Kleinkind: Sein Geburtsort Kirkcaldy war geprägt von dessen Hafen, vom beständigen Anlegen und Abfahren immer neuer Schiffe, von der frühkapitalistischen Zirkulation von Waren naher und ferner Provenienz.

Sein ökonomisches Hauptwerk und heutzutage wohl bekannteste Schrift „Wohlstand der Nationen“ (engl. Im Kurztitel „The Wealth of Nations“) aus dem Jahre 1776 ist dabei von humanistischen Gedanken wie auch den für ihn wichtigsten Werten – Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – geprägt. Der Menschenliebe – und nicht etwa einem verklärenden Blick auf den Markt als solches bzw. gar die Erhebung des Marktes zum Dogma ist letztlich die zentrale These des Werkes geschuldet: Das freie Streben nach Verbesserung der Lebensumstände eines jeden Einzelnen fördert den Reichtum der Gesellschaft insgesamt.

Freier Mensch und die Politik

Smith zeigt dabei auf, dass Politik, die das Eigeninteresse der Menschen und deren freies Handeln missachtet und über Gebühr einschränkt, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. Er fordert, dass Menschen frei sein sollten, um sich um sich selbst und ihre Familien zu kümmern und um (bescheidenen) Wohlstand zu streben. Denn die meisten Menschen hätten das Lebensziel, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Und da diese selbst wohl am besten wüssten, wie sie dies bewerkstelligen könnten, würde eine staatliche Beschränkung der Wirtschaft in den allermeisten Fällen mehr schaden als nutzen. Smith geht letztlich so weit, das Recht auf freie ökonomische Betätigung mit dem Recht auf freie Religionsausübung zu vergleichen. Eine Grenze zieht Smith jedoch da, wo das das Eigeninteresse auf Kosten anderer verfolgt wird: Dies ist laut Smith nicht nur verwerflich, sondern letztlich auch schädlich für die Wirtschaft.

Smith argumentiert im Ergebnis also, dass individuelles Streben nach Glück und Eigennutz nicht im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen, sondern dass die beiden in Einklang gebracht werden können. Wenn jeder seinem eigenen Interesse folgt, können daraus positive soziale und wirtschaftliche Ergebnisse entstehen.

Produktivität vs. Mensch

Tatsächlich würde Smith wohl heute als Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft gelten. Dabei wog er minutiös und geradezu hellsichtig sowohl die Vorteile als auch die Kosten der Marktwirtschaft ab – insbesondere die menschlichen Kosten. Denn Smith erkannte früh – sogar lange vor der im Vergleich zu späteren Produktivitätsgewinnen „langsam“ einsetzenden industriellen Revolution im 19. Jahrhundert – das zersetzende Potential kapitalistischer Gesellschaften: Dass etwa der Freihandel geneigt sei, große Ungleichheiten hervorzubringen sowie den Tribut an Menschenwürde, der in vielen Fällen von der immer feingliedrigeren Arbeitsteilung gefordert wird: So gibt Smith zu bedenken, dass jemand, der sein ganzes Leben damit verbringt, lediglich den 17. Teil eines größeren Gewerks herzustellen, einen immensen Preis dafür bezahlt; dass dies letztlich die Menschen schwach und unwissend mache und diese über keine Gelegenheit verfügen, Körper oder Geist entsprechend ihrer natürlichen Befähigung einzusetzen. Weiters war Smith besorgt, dass das Streben nach Reichtum und die Überhöhung materieller Güter das moralische Empfinden der Menschen verderben könnten.

Smith betont weiters, dass eine wohlhabende, freie und friedliche Gesellschaft nicht selbstverständlich ist; unter anderem hält er ein Plädoyer für die Bedeutung von Bildung und Aufklärung: Diese seien essentiell für den Fortschritt einer Gesellschaft und gleichzeitig deren sozialer Kitt. Eine gerechtere und menschenwürdigere Gesellschaft kann nur dann existieren, wenn diese eine informierte Bevölkerung aufweist, die dazu in der Lage, fundierte Entscheidungen zu treffen und aktiv an politischen und wirtschaftlichen Prozessen teilzunehmen. Investitionen in Bildung sind daher laut Smith essentiell, um Chancengleichheit zu fördern und den Menschen die Möglichkeit geben, ihr volles Potenzial zu entfalten. Eine gebildete Bevölkerung sei schließlich auch weniger anfällig für radikale Ideen. 

Thema Löhne

Ebenso waren ihm menschenwürdige Löhne wichtig; diese erachtete der als einen der Grundpfeiler einer wohlhabenden Nation:

“They who feed, clothe, and lodge the whole body of the people should have such a share of the produce of their own labor as to be themselves tolerably well fed, clothed, and lodged.”

Der Eindruck erhärtet sich: Vermutlich wäre es ein Anliegen Smiths, die Qualität des Wirtschaftswachstums – nicht dessen Quantität – als zentrale Messgröße festzulegen. Mit der Idee eines Bruttonationalglücks, welches das Bruttonationaleinkommen als gewichtigsten Gradmesser ablöst – wie dies derzeit schon in Bhutan gelebt wird – hätte er womöglich eine große Freude gehabt.

Ein Missverständnis?

Dass Smith trotzdem nicht nur von modernen Vertretern der sozialen Marktwirtschaft sondern mit mindestens gleicher Vehemenz auch von Marktliberalen zitiert wird, liegt wohl auch im Schluss Smiths begründet, dass freie Gesellschaften unzweifelhaft wohlhabender sind als Unfreie und dass Smith letztlich den Menschen auch – als Kehrseite der ihnen zukommenden Freiheit, Chancen zu verfolgen – die Verantwortung für ihr Handeln aufbürdet. Dabei nicht vergessen werden darf, dass freie Märkte nicht nur den Reichen und Mächtigen zugutekommen, sondern – wie der in der Menschheitsgeschichte unvergleichbare technische und wissenschaftliche Fortschritt westlicher Gesellschaften der letzten zwei Jahrhunderte zeigt – letztlich der breiten Masse. Nach Smith ebenso untrennbar verknüpft mit dem Konzept freier Märkte sind die zentrale Rolle des Eigentumsrechts und damit einhergehend Vertragstreue sowie Redlichkeit im Geschäftsverkehr; ein geordnetes rechtsgeschäftliches Handeln also, bestenfalls aufgebaut auf einem in der Gesellschaft erworbenem breiten moralischen und ethischen Fundament.

Was bleibt

Wenn ich abschließend den wichtigsten Aspekt nennen sollte, der meines Erachtens durch die Brille Smiths auf unsere heutige Gesellschaft zu gewinnen ist, dann wäre dies, wieder Bewusstsein dafür zu erlangen, dass Wirtschaften kein Selbstzweck ist: Wir sind als Homo Sapiens dazu programmiert, in Gruppen und Gesellschaften zusammenzuleben und in wechselseitigem Vertrauen und Austausch jeweils das Unsrige zu einer funktionierenden Gemeinschaft zu leisten; dies war für Jahrhunderttausende unsere Realität und liegt in unserer Natur. Smith hat dies im Zuge seiner Beobachtungen erkannt und recht daran getan, die menschliche Natur und den menschlichen Wert in den Fokus zu rücken. Es sollte also weiterhin der Mensch – quasi als unverrückbarer Fixstern – Mittelpunkt jegliches wirtschaftlichen Handels sein.

Wir leben jedoch mittlerweile in einer Zeit, in der Rolle und Stellenwert des Menschen in unserer Gesellschaft vor einem grundlegenden Paradigmenwechsel stehen: Stichwort exponentiell lernende künstliche Intelligenz und fortschreitende Automatisierung, Stichwort menschliche versus maschinelle Wertschöpfung. Dass wir zudem immer mehr den Grenzen unserer eigenen kommunikativen und teils von Algorithmen vorgegebenen Blase ausgesetzt sind und sich die Gesellschaft letztlich in Lager spaltet sowie die gesamtgesellschaftliche Debatte immer öfter von konsequenzloser – weil digitaler und anonymer – Emotionalität als von Rationalität geprägt wird, würde Smith wohl dazu veranlassen, im Grabe zu rotieren. Wie der einsame Inselbewohner aus der Theorie der ethischen Gefühle überspitzt aufzeigt, ist der Mensch als soziales Wesen letztlich nicht dazu geschaffen worden, in kleinen Echokammern ohne soziales Korrektiv zu existieren und kann letztlich auch keine funktionierende und menschenwürdige Gesellschaft auf einer solchen Grundlage aufbauen. Bei der Bewältigung kontemporärer Herausforderungen sei also stets an den Menschenfreund aus Kirkcaldy erinnert.

Betriebswirt. Jurist. Freund der Wirtschaftsgeschichte. Und gelegentlicher AFEU-Kolumnist.

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