Von der großen Weite im engen Tal

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Foto (c) Christian Payer, Pitztal, flickr.com

Das große Gewese um „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ bei den Salzburger Festspielen beweist: Wir sind (fast) alle sehr stolz auf unseren inneren Thomas Bernhard. Wir lieben dieses Land, aber hassen diesen Staat. Wir sind stolz auf unsere Berge, wir finden sie mitunter sogar richtig schön, und das Bergsteigen hat sich neuerdings auch unter Intellektuellen wieder etabliert. Aber alles Politische, die Mentalität, den Konservativismus möchten wir lieber heute denn morgen der gestrengen Diktatur der Weltoffenheit anheim fallen sehen. Und, da sind wir uns einig, nirgends würde das mehr Not tun als in Tirol. Links und rechts von uns ragen steile Felswände auf – kein Wunder, dass der Durchschnittstiroler mindestens so engstirnig, verbohrt und bigott ist wie der Durchschnittstexaner. Besonders schlimm ist das natürlich in den engen, hochgelegenen Tälern, wo man sich strikt weigert, das „Sie“ zu verwenden und wo es nur dem Tourismus zu verdanken ist, dass man die Erde nicht immer noch für eine Scheibe hält.

Ein Gegenbeispiel

Was nun Willi Pechtl mit dem empathischen Blick des Einheimischen in seiner Geschichtensammlung „Im Tal leben – Das Pitztal längs und quer“, entstanden aus zahllosen Interviews und Zeitzeugenberichten, über das ländliche Tirol zu sagen hat, ist unendlich viel komplexer.
Da ist von sehr früher Migration in und aus allen Richtungen die Rede – sogar von einem mittellosen Pitztaler Medizinstudenten, den Max Reinhardt 1934 mit nach Hollywood nahm; von Handel mit allen Seiten, auch mit fahrendem Volk; ja, auch von einer intensiven, alltagsnahen Religiosität; und immer wieder von einer großen, rückhaltlosen Solidarität.
Gewiss entsprechen viele Narrative dem, was man erwarten würde: Väter, die für ihre Kinder hungern und Waisen, die ohne Zögern adoptiert werden.
Aber man kann auch über Pitztaler Regimegegner und Kriegsdienstverweigerer lesen, die über Jahre in einem Geheimzimmer hausten und nur des Nachts in die Küche hinabstiegen. Und über eine junge Lehrerin, die ihren verschlossenen Pitztaler Schülern zwar verbotenerweise keine Nazilieder beibrachte, aber Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um jedem Kind ein paar Schuhe zu beschaffen.

In Jerzens wie in Jerusalem

(c) Sammlung Willi Pechtl
(c) Sammlung Willi Pechtl

Die Behauptung, dass es die Abgeschiedenheit ist, die die Menschen misstrauisch, feindselig und bitter werden lässt, und das damals wie heute, sieht sich jedenfalls nichts bestätigt. Es ist nämlich das Dörfchen Jerzens, das neben Innsbruck als einziger Ort in Westösterreich einen „Gerechten unter den Völkern“ stellen konnte: In der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem steht unter tausenden anderen auch ein Baum für Lambert Grutsch, einen einfachen Bauernsohn, im Krieg untauglich, deshalb ein unbedeutender Vorarbeiter im Straßenbau in Wien.
Grutsch schmuggelte die polnische Jüdin Helena Eppstein von Wien in seinen Heimatort, wo sie unter dem Decknamen „Jula“ am Hof seiner Eltern mitarbeiten konnte. Er wusste, welcher Gefahr sie ausgesetzt war und was es bedeutete, sie zu verstecken – seiner Familie verschwieg er ihre jüdische Herkunft, um sie zu schützen. Von Anfang 1944 bis Kriegsende lebte die junge Frau unbemerkt in der abgeschiedenen Bauernschaft, unter der Nase der Nazi-Schergen in Wenns, Lamberts Schwester Adelheid in inniger Freundschaft verbunden. Man rettete ihr auf stille, völlig unspektakuläre Weise das Leben und setzte dafür das eigene aufs Spiel. So viel Großmut würden wir uns, wenn wir ganz ehrlich sind, wohl selbst nicht zutrauen.

Die Wildspitze in Chicago

Natürlich – Pechtl ist schließlich Künstler – ist neben der Politik auch sehr viel von der rauhen Schönheit des Tales die Rede, die Segen und Fluch zugleich ist; schließlich musste dem kargen Boden bisweilen jede Kartoffel mühsam abgerungen werden.
Aber das Pitztal zog als vielfältig nutzbares Motiv auch eine ganze Reihe von Künstlern an, das weltgewandte Ehepaar Mediz um die Jahrhundertwende etwa, später der Engländer Edward Harrison Compton.
Ein inzwischen verschollenes Riesengemälde von den Schweizer Künstlern Michael Zeno Diemer und Hans Beat Wieland, die später der Neuen Sachlichkeit nahe standen, wurde 1893 gar für die Weltausstellung nach Chicago verschifft – das Motiv? Natürlich die Wildspitze! Die malte auch Karl Mediz gerne, und Emil Nolde nutzte sie für eine seiner humorigen Bergkarikaturen.
Aber auch die Pitztaler selbst haben Sinn für Ästhetik – und die Künstler, die sie hervorgebracht haben zeichnen sich zum Teil durch einen sehr unsentimentalen Blick auf das Gebirge aus. Einer von ihnen ist Elmar Kopp, der, wie sollte es anders sein, wiederum vor allem Natur- und Sakralbilder malt. Das Pitztal ist als Inspirationsquelle immer noch unangefochten, nur die Tourismusbauten stören das Bild.
Und in Mandarfen, das schon nicht mehr auf zwei, sondern auf drei Seiten von Bergen umgeben ist, wurde in den letzten Jahren ein weitflächiger Skulpturenpark angelegt, mit Werken von internationalen Künstlern, die im allsommerlichen Symposion vor Ort arbeiten. „Park“ ist eigentlich der falsche Ausdruck für die Art, wie hier bearbeiteter mit naturbelassenem Stein in einer ästhetischen Symbiose zusammenspielt. Das ist archaisch und wild und zugleich sehr feingeistig. Ein Besuch lohnt sich – weil man weit weg von allem ist, insbesondere von der Stadt, und irgendwie trotzdem mittendrin. Weil die Erde bekanntlich keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, kann es den sprichwörtlichen „Arsch der Welt“ schon aus Gründen der Logik nicht geben. Man ist immer „mittendrin“.

Menschlich, allzu menschlich…

Die große weite Welt ist offenkundig nicht nur da, wo alles groß und weit ist. Sie ist überall zu finden, wo Menschen selbst denken, wo sie – in jedem Wortsinn – autark sind, wo sie mutig ihren Überzeugungen folgen, wo sie nicht den Bezug dazu verlieren, was es überhaupt bedeutet, ein Mensch zu sein, mit allen Sorgen und Nöten.
Wir sollten uns unsere herablassenden Urteile nicht länger anmaßen. So dachte im Übrigen auch Thomas Bernhard.


 
Willi Pechtls Buch „Im Tal leben – Das Pitztal längs und quer“ ist im Studia Verlag erschienen und derzeit noch in den meisten größeren Buchhandlungen erhältlich.
Der Skulpturenweg  in Mandarfen ist ein schönes Ausflugsziel. Da bietet sich auch gleich ein Besuch am Pitztaler Gletscher oder am Rifflsee an – weil die Berge so schön sind…

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