Warum die Willkommenskultur immer schon eine Unkultur war

5 Minuten Lesedauer

In der Politik kommt so gut wie gar nie die Rede auf das Thema „Kultur“. In den Wahlprogrammen der jeweiligen Parteien muss man lange danach suchen, sofern man überhaupt fündig wird. Umso erstaunlicher, dass sich das Wort „Willkommenskultur“ nachhaltig in den politischen Diskurs geschlichen hat. Seither wird darüber gestritten, ob diese Willkommenskultur richtig oder falsch war. Erst kürzlich ist die Diskussion wieder aufgeflammt, nachdem sich eine prominente Grün-Politikerin zu dieser bekannte.
Fakt ist, dass die „Willkommenskultur“ schon immer kulturvergessen war und es noch immer ist. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Begrifflichkeit definiert oder gar in Frage gestellt. Das Wort „Kultur“ leitet sich vom lateinischen „cultura“ ab, was so viel wie Pflege oder Bearbeitung bedeutet. Damit sind wir vielleicht bei der menschlichen Eigenschaft schlechthin: Der Mensch bearbeitet das, was ihn umgibt. Er verarbeitet Eindrücke und Einflüsse.
Er formt und gestaltet, findet mehr oder weniger kunstvolle Verfahren um die ihn umgebende Welt zu kommentieren, zu konterkarieren, zu überspitzen oder zu kritisieren. Das kann ein literarischer Text, ein Gemälde, ein Musikstück und noch anderes mehr sein. Wichtig ist das Verhältnis von Kunst und „Welt“. Die Kunst nimmt eine Haltung zu dieser ein, mit ihren ureigenen Mitteln.
Vor diesem Hintergrund fällt ein anderer und erweiterter Blick auf die sogenannte „Willkommenskultur“. Es gab einen Zugriff auf die „Welt“ und eine Haltung zu ebendieser. Menschen in Not wurde geholfen. Anstatt kulturimmanenter Fragen wurden aber überwiegend moralische und ethische Fragen gestellt. Aus einer zutiefst menschlichen und grundsätzlich richtigen Entscheidung ist so schnell ein hyperventilierender, hochmoralischer „Gutheits-Überbietungswettbewerb“ entstanden. Wer mehr half, war automatisch auch der bessere und moralisch „schönere“ Mensch.
Der Kultur-Begriff ist natürlicher weiter zu fassen. Er kann nicht ausschließlich als Rahmen und Überbau für die gesamte Kunstproduktion der jeweiligen Zeit verstanden werden. Wenn von Kultur die Rede ist, dann meinen wir auch die Gesamtheit dessen, was uns als Gesellschaft ausmacht. In diesem Kontext muss auch die Frage nach der „Identität“ gestellt werden. Wir beziehen uns auf ähnliche Narrative, Kunstwerke und philosophische Grundlagen. Damit identifizieren wir uns.
Im Kontext einer unmäßigen „Willkommenskultur“ heißen wir a priori womöglich auch abweichende Narrative und Denkmuster willkommen. Die Frage, ob solche unsere Kultur ins Wanken bringen können ist angebracht oder muss zumindest erlaubt sein. Die Gefahr besteht, dass wir vor lauter „Willkommenskultur“ ganz auf das Thema „Kultur“ vergessen. Es ist möglich, dass wir uns so sehr mit unserer „Gutheit“ beschäftigen, dass wir unsere hart erkämpften kulturellen Grundlagen leichtfertig aufs Spiel setzen.
Es ist das Wesen der Kunst, der wohl wichtigste Bestandteil der Kultur, dass sie sich den dringenden und drängenden Fragen der Zeit stellt und sich aus ihren Gewohnheiten herausbewegt. Sie darf es sich nicht in einer rein verteidigenden Haltung bequem machen und sich abschotten. Sie muss sich immer wieder öffnen, in Frage stellen lassen und Perspektiven und Positionen verändern.
Sie muss aber auch wissen, wenn ihr etwas nicht gut tut, wenn sie zu kollabieren droht. Nicht jeder Einfluss und jede Verschiebung ist automatisch produktiv und bereichernd. Kunst selektiert, wählt aus, lässt zu und schließt zugleich aus. Nur so kann sie zu Kunst werden. Nur so kann ein kohärentes, überzeugendes und beständiges Kunstwerk entstehen. So funktioniert auch Kultur. Sonst droht uns Unkultur und Beliebigkeit.
Die „Willkommenskultur“ hat sich also die falschen Fragen gestellt und geht von falschen Vorannahmen aus. Sieht man die politischen Diskussionen rund um dieses Thema, fällt die Kulturlosigkeit sofort auf. Es wird nicht über Grundlagen, Identitäten, Kunstwerke und „westliche“ Errungenschaften diskutiert, sondern über Moral. So lässt sich keine Kultur erhalten und schon gar nicht produktiv und intelligent neu ausrichten.

Titelbild: (c) Gerhard Fontagnier, flickr.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.