#heimkommen – das Prequel

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Tagebucheintrag, 22.12.2015


Michaela hat heute angerufen. Sie und ihre Familie schaffen es heuer wieder nicht, mich zum Weihnachtsfest zu besuchen. Zuviel zu tun, war die faule Ausrede. Faul, wie der Schwefelgestank des Beelzebub. Der Duft steckt in meiner Nase und will nicht mehr weggehen. Wir hatten auch immer viel zu tun. In erster Linie wegen unseren Kindern, aber hat uns das abgehalten immer für sie da zu sein? Irgendwie bin ich froh, dass du das nicht mehr miterleben musst, Irmi. Du würdest dich zu Tode kränken. Da war der Schlaganfall vor ein paar Jahren, im Gegensatz dazu, kurz und schmerzlos. Schmerzlos kann ich eigentlich nicht beurteilen, die Ärzte haben es zumindest gesagt. Ich kann gar nicht mehr genau sagen wann es war, als dich der Herr Gott mir weggenommen hat. Es hat auf alle Fälle alles verändert. Frank und Michaela sehe ich seither kaum mehr. Ihre Familien eigentlich noch seltener. Du warst immer das verbindende Glied zwischen uns, das stimmt schon. Aber dass ich in ihrem Leben so gar keine Rolle spiele, so hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Natürlich war unsere Beziehung immer etwas problembehaftet. Du weißt es besser als irgendjemand sonst, Irmi. Du warst ja dabei, hast oft die Scherben weggekehrt. Meistens auch unsere. Aber welche Ehe zerschlägt nicht den einen oder anderen Spiegel? Haben die eine Vorstellung wann und unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin? 1935 war ein guter Jahrgang, nicht wenige sind zur Welt gekommen, aus dem Großteil ist sogar etwas geworden. Diese Entbehrungen kann sich doch keiner mehr vorstellen. Heute sitzen sie in ihren Autos, spielen mit ihren Handys und verfolgen ihre Karriere, kaufen an der Ecke einen Kaffee zum Mitnehmen und sind aufgeschmissen, wenn ihnen das Wlan ausfällt. Von A nach B kamen wir nur zu Fuß und getrunken haben wir, wenn überhaupt, nur Malzkaffee. Karriere? Neue Technologien? Überleben war angesagt, im Familienverbund. Anders ging es nicht. Für Eitelkeiten war kein Platz, gutmenschliches Gejammer konnten wir uns nicht leisten. Die Familie hatte noch einen Wert, wenn Großmutter oder Großvater gesprochen haben, haben wir pariert. Da hatte das Wort der Alten noch Gewicht, falsch war es selten. Und wenn musstest du dazu stehen. Ein tiefer Blick in die Augen deines Gegenübers und den ganzen Mut hineinpacken. So war das. Diese ehrliche, direkte Art wurde akzeptiert, manchmal sogar geschätzt. Und mit den Konsequenzen musstest du halt leben. Geschadet hat das alles nicht. Die harte Arbeit, der raue Ton, die Schläge. Sie waren gut gemeint und hatten schon ihren Sinn. Wir bekamen klare Vorstellungen von dem, was erlaubt war und was nicht. Struktur und Ordnung sozusagen. Ich hatte Respekt vor meinen Mitmenschen. Diesen Respekt vermisse ich heute. Nicht nur mir gegenüber, sondern einer ganzen Generation.
Von heute auf morgen war alles anders. Vater war schuldig und tot. Eine schlechte Kombination für eine Halbwaise, verstanden habe ich das nie so richtig. Die Familie war aber da, der Besitz ebenso. Verantwortung gesucht und gefunden. Das konnte uns niemand nehmen. Unzerstörbare Werte quasi. In Zeiten wie diesen undenkbar. Ich beendete die Schule, machte eine Lehre und arbeitete mich empor. Mein Fleiß hat uns gegeben, nie genommen. Du hast diese Eigenschaften geschätzt, Irmi. Wahrscheinlich als Letzte. Niemand hat mich einmal gefragt, wie ich leben möchte, wohin meine Reise gehen soll. Verpflichtungen folgten weiteren Verpflichtungen. Du und die Kinder wollten versorgt werden. Wenn ich abends meine Ruhe brauchte und deine Durchsetzungskraft zu wünschen übrig ließ, ist mir halt das eine oder andere Mal der Geduldsfaden gerissen. Aber kein Vergleich zu früher oder was ich erlebt habe. Nur selten habe ich die Beherrschung verloren. Geholfen hat es nichts. Entschuldigen hätte auch nichts gebracht. Frank und Michaela entwickelten sich nicht nach Wunsch. Natürlich hätte es schlimmer kommen können, kann es ja immer. Sie überstanden die 70er ohne sich zu radikalisieren, vielleicht waren sie auch noch zu jung. Auf alle Fälle haben wir nicht alles falsch gemacht, sie haben zumindest studiert. Die Landflucht habe ich ihnen zwar noch lange übel genommen, aber mir kaum anmerken lassen. Trotzdem endeten Familienabende in der Folge mit Schreiduellen. Sie hätten doch auch in der Umgebung auf die Universität gehen können. Michaela besaß keinen Anstand, nahm immer den aktuellsten ihrer Verehrer mit und ließ diese Gestalten ihre Füße unter dem Esstisch parken. Frank brauchte ewig für sein Studium.
Den Willen, der unsere Familie über Jahrzehnte groß werden ließ, hat er halt vermissen lassen. Wenn ich ihn darauf ansprach, dauerte seine Ausbildung jedes Mal gefühlt 2-3 Monate länger. Er sei nicht mein Eigentum meinte er schroff und wies meine Kritik zumeist zurück. Nein, aber mein Sohn, stimmt es nicht Irmi? Du hast immer zu den Kindern geholfen. Immer. Zumindest hätte Frank schon auch ein bisschen meinen Erwartungen entsprechen können. Zwar ist er heute Arzt, aber ob er es ohne mein Einwirken geschafft hätte? Gedankt hat er es mir nie. Über meine Schwieger- und Enkelkinder kann ich gar nicht viel erzählen, zu der Zeit war das Verhältnis schon sehr zerrüttet. Bis auf die Hochzeit von Frank und Gabi kam es zu keinen großen Familienfesten mehr. Michaela hat nicht geheiratet. Warum wundert mich das nicht, nicht Irmi? Sie lebt mit ihrem Partner weit weg, die Kinder sind nicht getauft und obwohl sie alle teure Telefone haben, sind sie des Telefonierens nicht mehr mächtig. Ich weiß nicht ob wir uns so viel zu erzählen hätten, es würde sich aber gehören. Wenn nichts mehr Bestand hat, dann doch zumindest der Anstand. Oder nicht? Irmi?
Weihnachten ist schon seit Jahren kein familiärer Fixpunkt mehr. Zuletzt mit dir, Irmi. Seither vertrösten sie mich ein ums andere Jahr. Der Wert der Familie hat sich überholt, sie leben ihr Leben der Selbstverwirklichung und der Materialität. Glauben nicht an das, woran ich glaube und wachsen in einer Welt ohne Moral und Substanz auf. Meinen Rat wollen sie nicht, lehnen ihn ab. Wann das alles zerbrochen ist, kann ich nicht sagen. Es hätte gar nicht so weit kommen müssen. Blut war einmal dicker als Wasser, es gab nur ein Zuhause und auf das Heimkommen hat man sich gefreut. Der bedingungslose Familienverbund hat anscheinend ausgedient. Sie werden noch sehen, was sie davon haben. Wie sie wohl reagieren, wenn ich tot wär? Wenn ich bei dir wäre, Irmi?

Titelbild: Screenshot / Youtube

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