„Wer ist denn dieses Wir?“

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Gilles Reckinger, Jahrgang 1978, ist seit 1. Oktober 2013 Professor am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Größere Aufmerksamkeit hat er durch sein Forschungsprojekt auf der Insel Lampedusa erfahren, auf der jährlich tausende Flüchtlinge aus Afrika ankommen, davon viele Schiffsbrüchige. Reckinger untersuchte, wie die rund 5000 Einwohner der Insel mit den Bootsflüchtlingen aus Afrika zusammenleben, die häufig in Seenot geraten und von der Überfahrt gezeichnet ankommen. Gegenwärtig forscht er zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der migrantischen Erntearbeiter in Süditalien und stellt die Ergebnisse unter dem Titel „Bitter Oranges“ am Museum für Volkskunde in Wien aus. Am, 7.10.2015 um 19:00 Uhr findet dazu eine Podiumsdiskussion an der Universität Innsbruck statt.
AFEU: Seit dem Sommer 2015 hat die Flüchtlingsthematik eine intensive mediale Präsenz. Mich persönlich verwundert das, denn es gibt ja seit vielen Jahren eine große Migrationsbewegung nach Europa. Wie ist dieser mediale Diskurs entstanden und warum ausgerechnet jetzt?
Gilles Reckinger: Der Diskurs kommt immer wieder, sporadisch schwappt er in unsere Wahrnehmung. Tatsächlich sind diesen Sommer viele Menschen über Lesbos nach Griechenland und weiter nach Europa eingewandert. Aber die sogenannte Balkanroute, die bis vor wenigen Wochen fast niemandem ein Begriff war, existierte natürlich schon viel länger wie auch das Mittelmeer, in dem jede Woche Menschen sterben. Ein Argument, wieso das jetzt aufgekommen ist, ist durchaus auch das Sommerloch. Im Sommer passiert nichts sonst, und die Medien hatten über Wochen eine Schlagzeile. Die Schlagzeile ist natürlich real, aber die Frage, warum schaffen es manche Nachrichten in unser Bewusstsein und manche nicht, stellt sich natürlich. Denn wir haben so eine Steuerung der Aufmerksamkeit und die ist konstitutiv für dieses System, wie mit Grenzen umgegangen wird.
AFEU: Diskurs – so wie wir dieses Wort hier verwenden – bedeutet ja nicht nur mediale Berichterstattung und Aussagen von Politikern, sondern auch die Praxis, die als unmittelbares Resultat eines Diskurses zu gelten hat. Diskurs und Praxis können nur schwer voneinander getrennt werden. Wenn Sie sagen, dass die Steuerung der Aufmerksamkeit konstitutiv für das System ist, wie mit Grenzen umgegangen wird, stellt sich mir die Frage: Was genau ist die praktische Ebene dieses Diskurses? Wie hängt der Diskurs mit unserem Umgang mit Migrationsbewegungen zusammen?
Gilles Reckinger: Unsere Aufmerksamkeit ist medial stark gelenkt und im Diskurs zeigt sich, dass das Thema Migration immer schon eng an den Diskurs um Sicherheit verknüpft wurde. Historisch hat sich die Europäische Gemeinschaft zum ersten Mal in der Arbeitsgruppe TREVI im Jahr 1975 mit Migrationsfragen unter Sicherheitsaspekten auseinander gesetzt. TREVI stand für terrorisme, radicalisme, extrêmisme, violence internationale. Gerade heute sehen wir, dass Europa vielfach mit militärischem Aufwand auf Migrationsfragen reagiert und sie als Frage der Sicherheit an den Außengrenzen behandelt. Damit wird sie aber niemals der Dynamik der Flüchtlingsbewegungen gerecht, wie man derzeit auch ganz klar sieht.
Wie wir in den europäischen Nationalstaaten unsere Migrationspolitik gestalten, hat natürlich direkten Einfluss darauf, was an den Außengrenzen passiert. Die europäische Logik der Befestigung von Außengrenzen führt in weiterer Folge dazu, dass sich die Routen der Flüchtlinge immer wieder ändern. Irgendwo werden Routen verschlossen, was aber immer bedeutet, dass anderswo wieder welche aufgehen. So sind auch viele syrische Flüchtlinge über das Mittelmeer und Lampedusa nach Europa gekommen, was geografisch absolut widersinnig ist, aber das mussten sie, weil ihnen die naheliegenden Routen versperrt wurden. Auf die Frage bezogen bedeutet das, dass politische Handlungen wie diese als Reaktion auf einen Diskurs unternommen werden, was bedingt, dass diese Handlungen sehr kurzfristig sind, sich oft auf Ankündigungseffekte beziehen – wie zu Beispiel: Wir bauen einen Zaun, wir errichten dort einen Korridor – die aber nicht das in Frage stellen, was solche Bewegungen erzeugt.

Bitter-Oranges-©-Carole-Reckinge
Bitter-Oranges-©-Carole-Reckinge

AFEU: Die Linguistin Ruth Wodak beschreibt in ihrem aktuellen Buch „Politik der Angst“, wie durch den gesellschaftlichen Diskurs Identitäten konstruiert werden – ein „Wir“ und ein „Die“ – und so Mechanismen entstehen, mit denen Menschen zu Ausgeschlossen werden. Damit ein Wir entsteht, so lautet die These, braucht es immer Menschen, die zu diesem Wir nicht dazu gehören. Der Rassismus erfüllt für die Politik eine wichtige Funktion. Wie sehen Sie das?
Gilles Reckinger: Als Ethnologe ist uns bewusst, dass wenn wir über die anderen sprechen, wir auch und gerade über uns sprechen. Also ja: wenn ich eine Gruppe als ganz signifikant anders, als potentiell bedrohlich, konstituiere, konstituiere ich nach innen hinein eben auch ein Wir. Dieses Wir ist aber in Wahrheit ganz unterschiedlich: Wer sind wir Österreicher denn? Gehöre ich als Luxemburgischer Staatsbürger, der hier lebt und arbeitet, dazu? Ist das der Flüchtling, der hier in einem Verfahren ist? Ist das auch der Österreicher, der in seinem Leben nie gearbeitet hat? Die Frage lautet also: Nach welchen Regeln oder Maßstäben wird entschieden, wer zu diesem wir gehört und wer nicht, wer also legitim ausgeschlossen werden kann. Hier kann man im gesellschaftlichen Diskurs ganz unterschiedliche Zugänge beobachten.
Lampedusa cover rot Kopie
Lampedusa

AFEU: Versuchen wir, die Funktion dieses konstituierenden Wir-Gefühls nachzuzeichnen: Welche gesellschaftlichen Wirs existieren in unserer Gesellschaft gegenwärtig? Und wie beeinflusst das die Politik – wenn wir zum Beispiel nach Oberösterreich schauen?
Gilles Reckinger: Ich beobachte das so: Einerseits gibt es ein zivilgesellschaftliches Wir, das sagt, dass es selbstverständlich ist, dass wir hier aktiv werden müssen. Das Hilfsbereite gehört sozusagen zu uns dazu. Andererseits dieses ausschließende wir, das sagt, wir in Europa können nicht das ganze Elend aufnehmen. Donald Tusk hat vor ein paar Tagen gesagt, dass wir die Türen und die Fenster wieder schließen müssen. Da wird die Metapher des Wir als Europa, das in einem Haus lebt, und in dem jemand die Fenster und Türen offen gelassen hat und das Andere von draußen dann rein kommt. Das sind Strategien, mit denen der Diskurs in eine Richtung gelenkt werden soll, die die eigenen Argumentationsmuster stützen soll. Der Wahlausgang in Oberösterreich war sicher – auch – überschattet von dem Migrationseffekt. Zugleich entsteht aber gerade als Reaktion auf rechtsgerichtete Äußerungen eine Solidarisierungswelle, die dem Bild des IS-Terroristen, dem Sozialschmarotzer usw. etwas entgegenhält.
AFEU: Sie haben ja über mehrere Jahre viel Zeit auf Lampedusa verbracht und die dortige Gesellschaft kennen gelernt. Dort halten sich meistens mehr MigrantInnen als Einheimische auf, mehrere 10.000 Menschen kommen jedes Jahr dort an. Wie kann man sich diese Gesellschaft vorstellen?
Gilles Reckinger: Ich habe mich in meiner Forschung vor allem gefragt: Wie lebt man auf dieser Insel, inmitten von Schlagzeilen, von Bootsankünften; ist das eine rassistische Gesellschaft oder wie gehen sie mit den Flüchtlingen um? Es zeigte sich: Sie ist nicht rassistisch, sie ist relativ gastfreundlich. Einer der Gründe dafür ist der, dass die Lampedusani selbst relativ arm sind – 80% der Menschen haben im Winter keine Arbeit – man wandert aus, bis heute. Bis in die 1960er-Jahre sind viele Lampedusani sogar nach Tunesien ausgewandert, um zu arbeiten. Auf Lampedusa gibt es kein Krankenhaus, wenn die InselbewohnerInnen krank werden, müssen sie nach Sizilien. Das bedeutet, dass die Menschen Gründe kennen, um auszuwandern.
Gilles Reckinger
Gilles Reckinger

Ein zweiter Grund ist, dass die Lampedusani Schiffbruch kennen, weil sie eine Inselgesellschaft sind. Sie leben nach dem uralten Gebot, dass wer Schiffbruch erleidet, einfach aufgenommen wird, ohne dass man fragt, woher der kommt oder was der will. Lampedusa hängt von einem Versorgungsschiff ab, das extrem unzuverlässig ist und vor zwei Jahren in Brand geraten ist. Diese Ergebnisse haben uns überrascht. Obwohl die Lampedusani viel mehr mit Flüchtlingsbewegungen zu tun haben, haben sie viel weniger Angst vor MigrantInnen als viele Menschen in Mitteleuropa, die das weitaus weniger betrifft.
AFEU: In naher Zukunft – so sind sich die meisten Experten einig – werden auch weiterhin viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Können Sie aus den Erfahrungen heraus, die Sie im Rahmen ihrer Forschung auf Lampedusa gemacht haben, Schlüsse ziehen, wie der Diskurs verlaufen sollte, damit unser zivilgesellschaftlicher Umgang mit Flüchtlingen besser wird?
Gilles Reckinger: Das ist interessant: Warum fragen Sie hier explizit nach der Zivilgesellschaft?
AFEU: Unbewusst, würde ich sagen. Vielleicht, weil meiner Ansicht nach die Zivilgesellschaft eigentlich alle Aufgaben übernimmt und ich mir von Institutionen des Staates wenig erwarte.
Gilles Reckinger: Okay. Ich tue mir da etwas schwer, weil ich schon sehe, dass wir auf der Makroebene ganz viele Herausforderungen zu bewältigen haben. Was ich zuvor angesprochen habe, dass auf der Ebene der EU und der Nationalstaaten Migration als eine Frage der Sicherheit gesehen wird. Man müsste bestimmte Abkommen aussetzen und zu einer gemeinsamen europäischen Flüchtlings-, und Migrationspolitik kommen. Es ist auch ein Problem, dass in der EU Fragen der Arbeitsmarkt-, der Agrar-, und der Flüchtlingspolitik fragmentiert betrachtet werden; ein Problem, mit dem ich mich in meiner aktuellen Forschung befasse (zur Situation migrantischer ErntearbeiterInnen in Süditalien, Anm.). Auch ist es so, dass die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und legalen – (politischen) Flüchtlingen insofern institutionalisiert ist, dass sogar der UNHCR diese unglückselige Trennung vornimmt, obgleich wir wissen, dass Motive für Flucht immer heterogen sind und es spätestens während des Fluchtverlaufs zu erheblichen Traumatisierungen kommt. Aber es ist natürlich auch so, dass politische Entscheidungen von Menschen gemacht werden und die Zivilgesellschaft Einfluss auf diese Ebene ausübt und dass deswegen beide Ebenen bespielt werden müssten. Darin sehe ich aktuell auch Chancen – ich versuche da optimistisch zu sein – viele Menschen in Österreich und Europa lernen zum ersten Mal in ihrem Leben selbst Flüchtlinge kennen. Das hat sich auf Lampedusa auch positiv auf den Diskurs ausgewirkt, weil durch diese Alltagserfahrung viele Vorurteile enttarnt werden.
Vielen Dank für das Gespräch!

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