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Nach der Grippe

4 Minuten Lesedauer

Nicht nur in Zeiten wie diesen ist es  – besonders für ältere Menschen – aus gesundheitlichen Gründen wichtig, daß man sich nicht zu sehr aufregt. Als ich daranging, diese Glosse zu schreiben, sollte diese ursprünglich ungefähr so anfangen:

Bevor wir uns endgültig der neuen Zeit und erfreulicheren Dingen wie Untersuchungsausschüssen, politischen, journalistischen, wissenschaftlichen und sonstigen Lugentschüppeln zuwenden, möchte ich das Thema Grippe, Corona u.ä. abschließen, indem ich meine eigene, ganz private Coronageschichte erzähle.

Beim Wort „Lugentschüppel“ rutschte mir der Google-Finger aus, und schon fand ich mich in den Tiefen und Weiten des Internets wieder und länger nicht mehr heraus. Zuerst wollte ich eigentlich nur das Wort für unsere jungen Leser und Innen ins Standarddeutsche übersetzen. Neulich hat mir wieder ein Sprachwissenschaftler erklärt, daß der Dialekt jetzt bei der Jugend endgültig ausstirbt. Das haben sie vor einem halben Jahrhundert auch schon getan, als ich dieses schöne Fach eine zeitlang ein bißchen studierte, aber jetzt wird es anscheinend ernst. Zumindest bei unseren Kindern ist es eindeutig der Fall.

Wie dem auch sei, bevor ich mich daranmachte, ein schönes Wort für das tirolische oder innsbruckerische „Lugentschüppel“ zu finden, wollte ich einfach nur schauen, ob irgendwer im World Wide Web es auch noch kennt, verwendet bzw. internet-tauglich dokumentiert hat. Dort war nichts zu finden. Aber immerhin den „Tschüppel“ müßte doch wer kennen. Und ob:

33 Ergebnisse, nicht gerade viel gegen die ca. 110 Millionen Ergebnisse, die man beim Suchbegriff „Billie Eilish“ bekommt, aber immerhin etwas.

Was heißt also „Tschüppel“, bzw. an welchen Stellen kommt es vor?

„bewaldete Anhöhe“ (Schaffhausen)

„ein Tschüppel Experten und Politiker“ (Andreas Khol in der „Presse“, also „eine beachtliche Zahl“), ebenso „ein Tschüppel Hirten“ (Josef Sonnweber, Silz)

„Haarschopf“ (Pfalz, z.B. „wann i di am Tschippel krie“), „tschüppeln“ oder „tschuppen“, an den Haaren ziehen),

„tschüppel“, kleines Büschel, Bündnerromanisch,

„Und wie er daran riss, dass bald der Baum aus der Erde ging, blieb ein Tschüppel hängen und hängt bis heute noch daran“ (aus einem Märchenbuch),

„Er war durch den Tschüppel Banknoten, den er hatte sehen lassen, offenbar in der Achtung der Bauern bedeutend gestiegen“ (Rudolf Greinz, Berheimat, 1918, Nachdruck 2016 von Verone Publishing, Nikosia, Zypern),

Tschüppeliweg, Straßenname in Graich, Schweiz, „E Tschüppel ist auf Baseldeutsch ein abstehendes Haarbüschel …

Am Ende lande ich so ziemlich dort, wo ich irgendwann Ende der siebziger Jahre weggesprungen war, um mein Leben verschiedenstem Larifari zu widmen: bei der edlen Sprachwissenschaft, lese mich fest und finde auf der Stelle, daß DAS nun wirklich sehr, sehr interessant ist: „Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches von Hugo Schuchardt. Buchdruckerei Styria in Graz.“ Und wovon handelt der Herr Schuchardt da in einem Aufsatz über die Mischungsverhältnisse der Sprachen in den verschiedenen Dialekten? Genau davon, weswegen ich diese edle Wissenschaft dann im Endeffekt zugunsten des Larifaris aufgegeben habe. Nämlich davon, unseren ehemaligen Bundeskanzler Sinowatz vorwegnehmend, daß „das alles sehr kompliziert“ sei.

Bleibt zu bemerken, daß in der oben angeführten interessanten Liste gerade jene Bedeutung fehlt, nach der ich zunächst gesucht hatte: der Lugentschüppel ist ja bekanntlich eine Person, die uns nicht die Wahrheit sagt. Der Bedeutungsteil „eine beachtliche Anzahl“ hat sich also unter der Hand auf die vordere Worhälfte verlagert: der Lügen sind viele, die da von einer Person gewohnheitsmäßig verbreitet werden. Er kommt bis dato, ganz un-gender-gerecht, nur im Maskulinum vor.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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