Die graphische Revolution

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Zuallererst muss man aber infrage stellen, ob wir es hier wirklich mit einem Genre zu tun haben. So vielfältig wie die ästhetische Umsetzung – schwarz-weiß, halb-abstrakt, psychedelisch, im Märchenstil – sind auch die eigentlichen Textgattungen.
Viele Graphic Novels sind genuine Literatur, aber auch Biographien (Johnny Cash oder Fidel Castro) erfreuen sich wachsender Popularität – und seit einigen Jahren werden auch Literaturklassiker wie Kafkas „Verwandlung“, Cervantes’ „Don Quixote“ oder Remarques „Im Westen nichts Neues“ adaptiert. Spätestens hier wird man dann ein wenig skeptisch: Werke, die von nichts leben als der Sprache, die sie in der Tat erst zu Klassikern macht (denn gute Geschichten allein waren noch nie der springende Punkt) werden also auf eine bildhafte Ebene überführt. Das sorgt vielleicht für spektakuläre Effekte, aber Gregor Samsas komplexes Innenleben in seinem Käferdasein geht doch auf die Art fast völlig verloren. Und das kann nur zur Verflachung führen.


Gebt dem Volk Bilder!


Sind Graphic Novels also der nächste Schritt im Versuch, Geschichte und Geschichten möglichst leicht konsumierbar zu machen? Auf einer Ebene mit „Die wichtigsten Shakespeare-Tragödien einfach nacherzählt“?
Gerade bei Literatur wie der von Kafka oder Melville stellt sich die Frage, ob nicht alles Wertvolle und Geniale daran verloren geht, wenn die sprachliche Ebene auf den (minimalen) Dialog reduziert wird.
Stattdessen bekommen wir Bilder, die – im Gegensatz zu Sprache – so wunderbar klar und eindeutig sind. Und die den Film in unseren Köpfen ganz automatisch ablaufen lässt.
Das ist vielleicht nicht völlig ungefährlich. Weil Bilder festlegen, wo Sprache, insbesondere dichterische Sprache, einen Türspalt für das Undefinierbare, Geheimnisvolle offen lassen kann. „Du sollst dir kein Bildnis machen“ ist vor diesem Hintergrund kein (ausschließlich) religiöser Imperativ.
Aber Graphic Novels müssen sich nicht selbst zum Ersatz machen, und das ist vielleicht auch gar nicht ihr Geschäft. Als Konkurrenz zu „echten“ Novels mögen sie problematisch sein. Als eigenes, neuartiges Medium sind sie es nicht.
Geheime Klassiker wie „Maus“ (Art Spiegelmans NS-Drama mit Katzen als Nazis und Mäusen als Verfolgte), „Sin City“ oder „Persepolis“ (die Autobiographie der Iranerin Marjane Satrapi in Graphic-Novel-Form) zeichnen sich durch eine je eigene Ästhetik aus. Sie sind wohl durchdacht, manchmal schräg, manchmal auch schön.
Graphic Novels sind schlichter als Prosa, reduzierter, Dialog und Handlungen sind treten viel stärker hervor als Eindrücke und Emotionen. Es gibt kaum Introspektion. Die Bilder sind oft sperrig, etwas ungelenk, und nicht besonders naturnah. Nicht selten irritieren sie auch.
Idealerweise ersetzt „Die Verwandlung“ als Graphic Novel (aus der Feder bzw. dem Stift von Eric Corbeyran) „Die Verwandlung“ als Erzählung nicht, sondern steht eigenständig daneben, als eine mögliche Interpretation von einem Künstler. Das ist auch spannend, weil wir oft zu wenig darüber reden, wie wir Literatur verstehen und verstehen sollen, welche Bilder sie in uns hervorruft, und wie subjektiv diese Bilder sind.
Wir dürfen Marjane Satrapis Persepolis nicht als historisches Dokument der iranischen Revolution lesen, und die neuen Graphic Novels über Sophie Scholls letzte Tage nicht als wissenschaftliche Biographien, sondern als Versuch, mehr als außergewöhnliche Geschichten literarisch zugänglich zu machen. Weder das eine noch das andere ersetzt die Beschäftigung mit der realen Historie.


Die modernen Miniaturen


Im Übrigen sind Comics keine Erfindung der letzten hundert Jahre: Sie sind eigentlich etwas sehr Altes. Bis in die Zeit des Buchdrucks hinein war fast jeder Text mit aufwändigen Miniaturen versehen – kleine Gemälde, Randverzierungen, detailreiche Initialen. Meistens verschwammen die Buchstaben an irgendeiner Stelle mit den Bildern.
Viele neuere Miniaturen sind außerdem voller „Sprachbänder“, die die Funktion von Sprech- und Denkblasen hatten. Die mittelalterlichen Miniaturenmaler waren extrem versierte und intensiv ausgebildete Handwerker, technisch oft präziser als die Schreiber. Sie waren außerdem erfindungsreich und nicht unumstritten (man denke an den „Namen der Rose“) – echte Künstler, hätte man den Begriff damals schon verwendet. Die Miniaturen waren keine nette Draufgabe, nicht rein zur Unterhaltung. Sie gehörten zum Text, untrennbar.
Der wahrscheinlich erste Comicstrip der Welt ist der Teppich von Bayeux aus dem 11. Jahrhundert. Die detailreichen Stickereien, die die Eroberung Englands durch die Normannen darstellen, sind auf 50m Länge mit lateinischen Kommentaren versehen.
Diese enge Verbindung aus Bild und Text ist uns aber fast völlig verloren gegangen – Bilderbücher sind ausschließlich für Kinder da, die mit Sprache noch nicht ausreichend umgehen können. Je älter sie werden, desto weniger Bilder finden sich in ihren Büchern. Wir sehen Bilder deshalb als reine Unterstützung des Textes, als Eins-zu-eins-Übertragung.
Damit geht uns aber das Bewusstsein dafür verloren, dass Bilder und Texte sich sehr wohl auf dieselbe Welt beziehen, aber unterschiedliche ästhetische und kulturelle Funktionen haben. Ein Text wir in uns nie die gleiche Reaktion auslösen können wie ein Text.
Sprache abstrahiert von der eigentlichen Realität, fächert sie in Arten und Eigenschaften. Sie arbeitet mit allgemeinen Begriffen, mit „Universalien“, wie die Philosophen sagen. In Bilder drückt sich immer etwas Einzigartiges und Partikuläres aus. Solange uns das bewusst bleibt, solange Corbeyrans Gregor Samsa Corbeyrans bleibt, und unser Gregor Samsa unserer, kann sich der Graphic Novel in Ruhe neu Welten zueigen machen. Für uns als Leser wird er eine Bereicherung sein.


Empfehlungen aus der neueren und älteren Graphic-Novel-Literatur – für Einsteiger ins Genre


Chabouté hat Moby Dick von Melville zum Graphic Novel adaptiert. Ein Roman, der so sehr von den Dialogen lebt, und der so sehr mit Metaphern und Symbolen arbeitet (allen voran Moby Dick selbst) funktioniert mit Bildern eigentlich ganz hervorragend. Der Text basiert in sehr weiten Teilen eins zu eins auf dem Roman.
Ein Klassiker ist inzwischen auch Marjane Satrapis Persepolis (Teil I & II, sh. Titelbild). Der erste Band behandelt ihre Kindheit im Iran als Intellektuellentochter an der Schwelle zum Totalitarismus und die schwierige und einsame Jugend in Österreich und Frankreich. In Band II ist Marjane zurück im Iran und versucht, trotz Hijab und Repression, als moderne und emanzipierte Frau zu leben. Persepolis ist sehr witzig, manchmal beißend sarkastisch, und gleichzeitig auch sehr nachdenklich. Vor einigen Jahren wurde Band I mit viel Feingefühl und toller Musik auch verfilmt.
Bei Waltz witz Bashir von Ari Folman war der Animationsfilm zuerst da, dann kam der Graphic Novel. Eigentlich ist es aber fast eine Dokumentation, nur animiert: Folman war als junger Mann im ersten Libanonkrieg, im Laufe des Films rekonstruiert er seine traumatischen Erfahrungen.
Weniger politisch, aber dafür poetisch und sehr zart ist Jane, der Fuchs und ich von Fanny Britt und Isabelle Arsenault. Hélène ist etwa 12 und lebt höchst einsam in einer grauen Comicwelt – bunt werden die Bilder erst, wenn sie Jane Eyre liest oder mit dem geheimnisvollen Fuchs zusammen ist.
Drei ästhetisch recht gelungene Graphic-Biographien sind im neuen Band „Starke Frauen“ versammelt: Es geht um die erste Pilotin der Geschichte, Amelia Earhart, um Sophie Scholl.
Wer auf Amazon bestellt, muss Graphic Novels übrigens immer noch in der Kategorie „Comics“ suchen. Banause bleibt Banause…

Titelbild: (c) Marjane Satrapi

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