Es geht immer auch ein Teil von dir

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Als sie das Großraumbüro mit den Glaswänden verlassen hatte und ihr Blick zurückfiel, auf den Bildschirmschoner mit den bunten Fischen, die scheinbar schwerelos dahinschwebten, hätte sie gerne mit ihnen getauscht. Doch anstatt einzutauchen in die Stille, in das alles einnehmende, alles wegnehmende, alles nichtig, alles leichter machende, vergessen lassende Wasser und einfach nur wie ein silber-blauer Fisch dahinzuschwimmen, löschte sie das Licht und schloss die schwere Stahltüre hinter sich.
Sie trat nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spazierte eine junge Familie. Mutter. Vater. Und Tochter. Wie alt sie war? Vielleicht drei Jahre. Nicht viel älter. Drei Schirme. Rot. Gelb. Blau. Sie leuchteten in der Dämmerung wie Osterlichter in der Auferstehungsmesse. Sophie überkam für einen Bruchteil, so etwas wie ein Glücksgefühl. Es dauerte nur einen winzigen Moment, schon war er wieder da. Der Stich in der linken Brust. Gefolgt vom kurzen, flachen Atem. Dem Zuschnüren im Hals. Dem Pochen in den Schläfen. Sie war nicht überrascht. Doch immer wieder erstaunt, wie stark es sie noch immer schmerzte.
Vor drei Jahren war es gewesen. Eine Nacht hatte gereicht. Eine wilde Nacht. Wildromantisch. Mit dem Mann ihrer Träume. Es war warm gewesen, schwül. Ein typischer Hochsommerabend. Sie waren zum Fluss spaziert. Hatten sich auf die Mauer gesetzt und die Füße baumeln lassen. Sie trug ihr Lieblingskleid. Das weiße mit dem Blütenmuster und der Spitze am Saum. Er hatte die helle Jeans an und das weiße Shirt mit dem V-Ausschnitt, das ihr so gefiel. Es betonte seine starke Brust. Später hatte sie ihren Kopf auf seinen Schoss gelegt. Er strich durch ihr Haar. Sanft. Voller Vorsicht. Voller Achtsamkeit. Er gab ihr ein Gefühl, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Geborgenheit. Sie konnte sich fallen lassen. In seinem Schoss versinken.
Am Horizont leuchtete die Sonne ein letztes Mal auf, bevor sie verschwand. Sie richtete sich auf und küsste ihn. Ein warmer Schauer überzog ihren Rücken. Glück durchströmte sie. Liebe. Er war der Mann, an dessen Seite sie sein wollte. Dem sie an den Rand der Erde gefolgt wäre. Mit dem sie gesprungen wäre, in den Abgrund. Er war ihr Mann. Ihr Mann, den sie sich nicht einmal im Traum zu wünschen wagte.
Der Kuss war leidenschaftlich. Innig. Seine dunklen Hände wanderten ihren Oberschenkel entlang nach oben. Berührten den mit Spitzen besetzten Saum, krochen unter ihr Kleid. Weiter nach oben. Neugierig. Gierig. Forschend. Sie hielt den Atem an. Er zog eine Hand hervor und legte sie in ihren Nacken. Packte zu. Bestimmend. Führend. Voller Zärtlichkeit. Sie liebten sich innig. Auf der Mauer. Die Welt um sie verschwand, zerrann, bis nur noch sie beide übrig waren. Eng umschlungen, ineinander. So lange bis er in ihr kam. Sie komplett Eins wurden. Sie und er.
Als er gehen musste, sich verabschiedete und zurück flog, zurück über das Meer, zurück in seine Heimat, blieb ein Teil von ihm. Ein Teil Leben. Leben das ihr in den Schoss gelegt wurde. Ein Teil der sie mit ihm verband. Der ihr Trost schenkte. Den Abschied erleichterte. Es war eine Nacht. Eine Nacht mit Folgen. Als sie sechs Monate später im Krankenhaus lag, auf der Trage, die weißen Lacken, rot, getränkt in Blut, dachte sie an den Abend zurück. Ein warmer Schauer überkam sie. Blut floss. Die Welt zerrann ein weiteres Mal. Und mit ihr die Erinnerung. Der Trost in ihrem Bauch, den er ihr geschenkt hatte. Er verschwand. Rann dahin. Bis nichts mehr da war. Keine Hände. Kein Kuss. Kein Leben in ihrem Bauch. Nur sie. Die Ärzte und all das Blut. Er hatte sie für immer verlassen. Als sie wieder aufwachte, waren die Lacken wieder weiß. Weiß wie ihr Inneres. Kein Fleck. Keine Blume. Keine Farbe. Eine weiße Leinwand. Leer. Unbeschrieben.
Die abgenutzte, braune Tasche liegt vor ihr auf dem Boden. Die Haare kleben in ihrem Gesicht. Wieder rinnt Blut über die Innenseite ihrer Oberschenkel. Diesmal war es ihr Wille. Ihr eigener Wille. Sie hat entschieden. Für sich. Endlich soll die weiße Leinwand gehen. Endlich soll sie einen Fleck bekommen. Endlich soll die Leere verschwinden. Die Leere, die sie jeden Tag mit ins Büro nimmt und wieder mit nach Hause. Die Leere, die ihr Freundschaften genommen hat. Die Leere, die ihre Eltern verzweifeln lässt. Die Leere, die niemand füllen konnte. Niemand. Nicht er. Nicht einmal sie selbst. Bis zu diesem Tag.
Ein rotes Rinnsal fließt auf den weißen Boden ihrer Garderobe. Ein strahlend roter See, der sich bildet. Der funkelt und glänzt. Wie ein Rubin. Der Stein der Treue. Der Stein der Liebenden. Stein der Liebe. Ihr Stein der Liebe. Aus ihrem Innersten. Sie hat ihn erschaffen. Sie alleine. Sie und das Messer. Endlich keine weiße Leinwand mehr. Endlich ist es vorbei. Als ihre Knie nachgeben und ihr Kopf auf dem Boden aufschlägt, spritzen rote Tropfen in alle Richtungen. Wie bei einem Feuerwerk denkt sie noch und schmunzelt. Das Stechen lässt nach. Die Enge wird weit. Der Atem flacher. Sie hält die Augen offen. Der rubinrote See wird größer und größer. Endlich füllt sich die Leere. Endlich lässt sie sich fallen. Wird schwerelos. Taucht ein. In die Stille. Zu den Fischen, die so fröhlich schwimmen.

Titelbild: EvilSemmy/pixelio.de

 

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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